Verhungert


Einst oder heute, gestern und morgen lebte ein junges Mädchen mit seiner Mutter in einer kleinen Wohnung. Die Mutter war arm und ohne jede Hoffnung. Zudem liebte sie ihr Mädchen nicht besonders. Nun war das Kind, Anna mit Namen, bereits acht Jahre alt geworden. Doch seit Jahren hatte es niemand mehr gesehen. Anna hatte schon so lange ihr Zimmer nicht mehr verlassen, dass kein Nachbar sich an sie erinnern konnte. Denn Anna und ihre Mutter lebten in einem großen, sehr kalten Mietshaus, in dem die Bewohner ständig aus-, ein- oder umzogen. Nur Anna und ihre Mutter wohnten seit acht Jahren hier.


Anna war in dieser Wohnung zur Welt gekommen. Gezeugt worden war sie in einem großen Atelier. Doch davon wusste sie nichts, die Mutter hatte ihr nie von ihrem Vater erzählt. Anna hatte oft Hunger. Manchmal brachte die Mutter ihr ein Brötchen ins Zimmer, doch davon wurde Anna nicht satt. Anna hatte auch niemanden zum Reden oder zum Spielen. Anna war allein. Nur in der Nacht hatte Anna Gesellschaft. In der Nacht kam die Eule an ihr Fenster geflogen. Ihre funkelnden Augen waren Anna anfangs unheimlich gewesen. Doch mittlerweile meinte sie sogar, die Sprache der Eule zu verstehen. Manchmal legte sie ein paar Brotkrumen von ihren spärlichen Mahlzeiten beiseite, um der Eule ihren Besuch zu danken. 


Zwei Jahre lang lebte Anna einzig von den Besuchen der Eule. Sie sagte ihrer Mutter nichts davon. Was hätte sie auch erzählen sollen? Meist wusste Anna nicht einmal, ob die Mutter in der Wohnung oder ob sie ausgegangen war. Oft war ihre Zimmertür zugesperrt. Anna hatte es aufgegeben, das Zimmer verlassen zu wollen. Ein kleiner Eimer neben ihrem Bett diente ihrer Notdurft. Im Grunde genommen war Anna dennoch glücklich. Die Eule war ihre Freundin. Wenn nur der Hunger nicht gewesen wäre. Manchmal kratzte sie vor Hunger den Kalk von den Wänden. Manchmal wurde ihr vor Hunger schwindelig. Doch dann freute sie sich auf den Besuch der Eule. Sie nannte sie Ela und sprach ihr große Zauberkraft zu. Name und Zauberkraft der Eule mussten ein Geheimnis bleiben. Das war der Grund, warum Anna gar nicht so unglücklich war. Sie wusste, dass sie etwas von unschätzbarem Wert besaß.


Doch dann begann Anna vor Hunger manchmal das Gedächtnis zu verlieren. Sie vergaß sogar ihre Freundin. Es fiel ihr auch schwer, sich nachts ans Fenster zu stellen. In diesen Nächten flog die Eule immer wieder schreiend und krächzend um das große Mietshaus. In der siebten Nacht wurden die Bewohner unruhig. Denn aus alten Geschichten wussten sie noch, dass die Eule der Bote des Todes ist. „Wenn die Eule ruft, dann ist einer gestorben“, hatten früher die Großmütter erzählt. Außerdem war es ungewöhnlich: Was machte eine Eule mitten in der großen Stadt. Amseln, Meisen, Spatzen und vor allem Tauben suchten hier die Nähe zu den Menschen und ihren Abfällen. Eine Eule jedoch hatten die Wenigsten bislang gesehen.


So kam es, dass tagsüber im Treppenhaus alle über die Eule und den Tod redeten, während drinnen in einer kleinen Kammer Anna fast vor Hunger starb. Ihre Mutter hatte schon lange nicht mehr nach ihr gesehen. Als in der achten Nacht sich noch immer nichts geändert hatte, beschloss die Eule, deren Zauberkräfte nur dann wirken können, wenn jemand fest an sie glaubt, die Bewohner aufzurütteln. Immer wieder flog sie gegen Annas Fensterscheibe, bis sie scheinbar bewusstlos am Boden liegen blieb. Als das arme Federvieh mit ausgebreiteten Flügeln so hilflos auf den Asphalt gestreckt war, da wurden die Tierschützer aufmerksam. Sie nahmen die Eule behutsam auf, gaben ihr Wasser zu trinken, fütterten sie mit Mäusen und Würmern und setzten alles in Bewegung, herauszufinden, warum die Eule immer wieder gegen diese eine Fensterscheibe geflogen war. Sie vermuteten, das Tier sei geblendet worden. Doch als sie endlich Annas Zimmer betreten konnten, da fanden sie etwas viel Schrecklicheres vor. Schlimmeres hätten sie niemals vermuten können. Zitternd, frierend, mit glasigen Augen lag Anna auf dem Fußboden im eigenen Blut und Urin. Schon lange hatte sie nicht mehr aufstehen können. 


Man brachte Anna in ein Krankenhaus. Lange lag sie dort bewegungslos in ihrem Bett. Doch sie hatte einen Fensterplatz und konnte sehr wohl sehen, dass Ela sie nicht verlassen hatte. Jeden Abend setzte sich die Eule auf das Fensterbrett, als ob sie Anna beschützen wolle. Schließlich sorgten sogar die Krankenschwestern, denen dieser Besuch zuerst sehr unheimlich anmutete, dafür, dass der Hausmeister der Eule jeden Abend eine Maus als Speise servierte. Nach wochenlanger Pflege und liebevollen Versuchen, Anna wieder das Sprechen beizubringen, begann das Mädchen selbst wieder zu hoffen und zu träumen. Sprechen, nein, das wollte sie noch nicht. Nach Hause, das wollte sie auch nicht. Sie hatte kein Zuhause mehr. Sie hatte niemanden. Nur die Krankenschwestern, die sich fürsorglich um sie kümmerten.


Eines Nachts schließlich träumte Anna, wie die Eule ihre Schwingen ausbreitete und dabei auf die Größe eines Drachens heranwuchs. Schnell öffnete sie das Fenster und klammerte sich in Elas Gefieder. Es war eine laue Sommernacht, und Anna war seit Jahren nicht mehr draußen gewesen. Wie wunderbar die Nacht roch, wie sanft der Wind über die Haut strich, wie hell die Lichter der Stadt leuchteten! „Diese Nacht noch muss ich dich wieder zurückbringen“, sagte Ela schließlich. „Doch die Nacht wird kommen, in der ich dich hole und dir zu einem neuen Leben verhelfen werde. Zuerst musst du jedoch genesen. Und“, an dieser Stelle wurde ihre Stimme streng „du musst wieder beginnen, zu sprechen.“


Als Anna aufwachte, war das Fenster geöffnet. Ein lauer Sommerwind strich über ihre Haut. Sie wusste nicht, ob sie geträumt oder gewacht hatte. Vielleicht war sie auch wirklich mit Ela unterwegs gewesen. 


Anna wurde nie wieder richtig gesund. Es kam die Nacht, in der Ela Anna ins Leben geleiten wollte. Doch Anna schüttelte den Kopf. „Anna, komm, ich zeige dir die Welt“, versuchte es Ela noch einmal. „Schließ die Augen.“ Anna schloss die Augen, ihre Seele aber heftete sich in Elas Gefieder. Und Ela zeigte ihr die ganze Welt: Berge und Wiesen, Auen und Täler, Wälder und Seen, Schlösser und Städte, Prinzen und Wäschefrauen, Kirchen und Klöster. „Anna, du kannst wählen. Überall kann ich dir einen Platz zum Leben verschaffen.“ Erschöpft lag Anna am nächsten Morgen im Bett. Am Abend kam Ela zurück. „Nein, Ela, ich kann nicht unter den Menschen leben. Bring mich fort“, brachte Anna heraus. Es waren ihre ersten Sätze, seit sie ins Krankenhaus gebracht worden war. Die Eule schwieg. Doch sie tat, wie ihr geheißen. Annas Seele krallte sich in Elas Gefieder. Die Eule flog davon und ward nie wieder gesehen. Anna aber lag am nächsten Morgen tot in ihrem Bett.


© Mechthild Eissing



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