Rotkäppchen

Rotkäppchen ist längst schon selbst eine alte Frau geworden. Doch noch immer erinnert sie sich gern an ihre rote Kappe, die ihr einst als Kind ihren Namen eingebracht hatte. Noch heute rufen ihr die Kinder „Rotkäppchen, Rotkäppchen“ hinterher, obwohl sie seit Jahren die schwarze Haube der Witwen trägt. Sie lächelt noch immer, wenn sie so gerufen wird. Und manchmal, wenn die Kinder stehen bleiben und fragen: „Großmutter, hast du damals wirklich den Wolf gesehen?“, dann erzählte sie ihnen die ganze lange Geschichte, die allen Kindern noch heute geläufig ist. 


Doch der Weg zurück in den Wald, in das Häuschen, in dem auch ihre Großmutter einst gewohnt hatte, der fällt ihr an solchen Tagen doppelt schwer. Längst gibt es keine Wölfe mehr. Auch Bären sind in dieser Gegend schon lange nicht mehr gesehen worden. Den Förster, den sie auf ihren einsamen Wegen durch den Wald gelegentlich trifft, kennt sie nicht. Er ist ein junger Mann, er könnte ihr Enkel sein. Er grüßt sie immer freundlich. Er grüßt sie, wie man eine Fremde begrüßt, eine Zugezogene. 


Nachts, wenn sie in ihrem Bett liegt und die Alpträume sie plagen, kommen die Wölfe wieder. Es sind zehn, und sie stellen sich um das Bett der Großmutter, die einst das Rotkäppchen gewesen ist, und heulen. Nachts, wenn die Wölfe an ihr Bett kommen, erinnert sich die alte Dame an die Wege des jungen Mädchens. 


Rotkäppchen war in den Wald gegangen mit einem Korb, in den ihre Mutter Rotwein und Kuchen für die kranke Großmutter gepackt hatte. Auf dem Weg zur Großmutter hatte das Mädchen den Förster getroffen. Ganz arglos hatte Rotkäppchen ihn gegrüßt, und als der Mann sie fragte, wohin sie denn des Weges wollte, hatte sie so freundlich geantwortet, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte. Dann waren Dinge geschehen, deren Reihenfolge die alte Dame noch heute nicht genau benennen kann. Rotkäppchen kam erst wieder zu sich, als sie blutend im Moos lag, die Flasche Rotwein zerbrochen neben sich. Abgebrochene Äste wiesen einen Weg durchs Unterholz. Rotkäppchens Bluse war zerrissen, ihr Rock war blutbeschmiert. An den Korb für die Großmutter dachte das Mädchen schon längst nicht mehr. Ihr schmerzte der Kopf und sie wusste nicht, ihre Bluse zu richten. Rotkäppchen hätte nicht sagen können, was ihr soeben geschehen war und sie hatte nicht einmal eine Träne für den Schmerz, den sie in ihrem Leib spürte. 


Als sich das Mädchen durchs Unterholz schlug, fand sie keine Spuren mehr vom Förster. Sie hätte ihn auch nicht suchen mögen. Seltsamerweise fürchtete sie auch nicht, ihm zu begegnen. Das Mädchen suchte den klaren Bach, an dem sie als Kind immer gespielt hatte. Vielleicht war sie sogar gestern noch dort gewesen, aber Rotkäppchen wusste, dass ihre Kindheit nun für immer der Vergangenheit angehören würde. Und es kam ihr vor, als seien zwischen heute und gestern hundert Jahre vergangen.


Wie sie so durchs Unterholz schlich, hörte sie die Stimme des Wolfes: „Er ist zur Großmutter gegangen, er wird sich meine Jungen holen. Er will sie verschlingen, ersäufen oder erschlagen.“ Doch nirgends war ein Wolf zu sehen. Und da noch nie ein Tier mit ihr gesprochen hatte, und da gerade zuvor in einem Moment, den sie nicht erinnern konnte, hundert Jahre verstrichen waren, maß Rotkäppchen der Stimme des Wolfes keinerlei Bedeutung zu. 


Rotkäppchen wusch die blutigen Flecken aus ihrem Rock, sie schnürte Bluse und Rock wieder so zusammen, dass ihr Körper bedeckt war, sie brach sich eine Rute aus frischem Weidenholz und machte sich auf den Weg zur Großmutter. Dort angekommen, gemahnte ein Gemurmel sie zur Vorsicht. Die Tür zum Haus der Großmutter war nur angelehnt, auf Zehenspitzen schlich sie hinein. Am Bett der Großmutter stand der Wolf. Mit Nadel und Faden machte er sich am Bauch der Großmutter zu schaffen. Die Schere lag neben ihm. Das Bett der Großmutter war blutverschmiert, doch der Wolf nähte der alten Dame einen großen Schnitt in der Bauchdecke zu, als ob er ein Baader wäre, der ihrem Bauch eine Geschwulst entnommen hätte. 


Rotkäppchen war zutiefst erschrocken. Doch als sie ihren Blick in eine dunkle Ecke des Zimmers wandte, sah sie dort die Großmutter sitzen, sie hatte eine wollene Decke über die Schultern gelegt und auf ihrem Schoß hielt sie ein Körbchen mit zehn Wolfsjungen. Alle waren sie nackt und schwarz, sie suchten mit ihren Zungen die Zitzen der Mutter, sie stupsten sich und rangelten. Es war ein Gewimmel und ein Gewinsel, das seine Ordnung nur durch die leise Stimme der Großmutter und durch ihre ordnenden Hände erhielt.


Jetzt erst begriff Rotkäppchen, warum die Großmutter, die sie geglaubt hatte, in ihrem Bette zu sehen, so große Hände hatte. Jetzt erst begriff Rotkäppchen, warum die Großmutter, die in ihrem Bette zu liegen schien, so große Augen hatte. Und jetzt wurde ihr klar, dass der Großmutter, die nicht in ihrem Bette lag, auch dieser große Mund nicht gehörte. Im Bette ihrer Großmutter lag der Förster, der ihr eine Gewalt angetan hatte, die sie noch nie zuvor erlebt hatte. Im Bette der Großmutter lag der Förster, der die Wolfskinder verschlungen hatte. Jetzt sah Rotkäppchen auch die Wackersteine neben dem Bett der Großmutter. Als der Wolf seinen letzten Stich getan hatte, als die Naht verschlossen war, erwachte der Förster aus einem Schlaf. Er taumelte, als wären hundert Jahre vergangen, seit er die Wolfskinder verschlungen hatte. Wankenden Schrittes ging er zu dem Brunnen vor dem Haus der Großmutter. 


Sie hörten ihn fallen. Sie hörten ihn schreien. Die Großmutter lächelte ihre Enkelin an. „Es ist gut mein Kind, du lebst ja noch.“ 


Wenn Rotkäppchen, die jetzt selbst schon längst das damalige Alter ihrer Großmutter überschritten hatte, nach solchen Alpträumen aufwacht, weiß sie nicht mehr, welcher Wirklichkeit sie trauen sollte: Ihr Leben lang hatten ihr die Alten erzählt, dass der Förster sie und ihre Großmutter vor den Schandtaten des bösen Wolfes gerettet hatte. Ihr Leben lang hatten ihr die Alten erzählt, dass der Förster selbst an dem Biss des Wolfes zugrunde gegangen war. Er hatte ihn, den Wolf, erschossen, er hatte dessen Jungen ersäuft. Aber der Wolf, der die Tollwut gehabt haben musste, hatte dem Förster zuvor ins Bein gebissen, um seine Jungen zu verteidigen. Nach drei Tagen Fieberwahn war der Förster gestorben. Ihr Lebtag lang hatten sie im Dorf die Geschichte des Försters erzählt, der das Rotkäppchen und seine Großmutter aus den Klauen des Wolfes gerettet hatte.


© Mechthild Eissing


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