Menschenbilder

Manchmal ist es nur ein Moment: Ich sehe sie auf  der Straße, aus dem Fenster, im Bus oder im Kaufhaus: Menschen. Manchmal sind es auch zwei Menschen, die mir ins Auge fallen. Und für diesen einen Moment weiß ich alles. Manchmal muss ich das, was ich dann weiß, nur aufschreiben. Am Ende steht ein Text: ein Menschenbild aus Worten. Und dann wieder, manchmal, weiß ich nichts, aber auch gar nichts über einen Menschen, den ich eigentlich gut kenne. Dann muss ich alles, was ich über ihn noch nicht weiß, was aber doch sein könnte, mir ausdenken und aufschreiben. Und am Ende ist wieder ein Menschenbild entstanden und ich habe das Gefühl: Diesen Menschen kenne ich.

Die Frau in Gummistiefeln

 

Er traf sie immer auf der Straße, die zur Kirche führte. An einem anderen Ort sah er sie nie. Er sah sie auch nie in oder an der Kirche. Und doch war er sich fast sicher, dass sie nur wegen der Kirche hierherkam. Und er war er sich fast sicher, dass sie nicht in dieser Straße wohnte. Denn er sah sie nie in den Supermärkten und in den Geschäften, in denen die Leute aus diesem Viertel einkauften.

 

Er sah sie sonntags. Vielleicht dachte er deshalb, sie besuche die Kirche. Die Messe besuchte sie nicht, dort hätte er sie gesehen. Die Frau war in seinem Alter. Wahrscheinlich lebte sie allein. Aber es konnte gut sein, dass sie Kinder großgezogen und einen Mann zu Grabe getragen hatte. Wenn das so war, dann hatten die Kinder längst die Stadt und ihre Mutter verlassen. Vielleicht wollte er, dass sie die Kirche besuchte. Denn dann wäre sie nicht so allein gewesen, wie sie aussah.

 

Immer ging sie langsam. Immer ging sie aufrecht. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er gedacht, sie sei irre. Sie hatte auch einen solchen Blick. Nicht immer, aber häufig. Dann guckte sie durch ihn hindurch, obwohl er ihr entgegenkam. Dann sah sie ihn nicht, wenn er ihr näherkam. Und doch wich sie ihm aus. Trotz ihres Blickes, der in die unendliche Ferne gerichtet zu sein schien, stieß sie nie mit jemandem zusammen. Sie ging ihren Weg automatisch, aber nicht blind.

 

Sie war eine stolze Frau. Sie trug einen Mantel, der früher einmal nicht preiswert gewesen war. Schlicht war er aber dennoch gewesen. Nun war er aber bestimmt schon dreißig Jahre alt. Man sah, dass sie den Mantel gut gepflegt hatte. Man sah aber auch, dass er dreißig Jahre alt war. Oder man meinte es zu sehen, denn wer sich den Mantel ansah, der sah auch ihre Stiefel: Es waren Gummistiefel. Graue Gummistiefel. Schlicht und äußerst preiswert. So, wie sie diese Gummistiefel zu diesem Mantel trug, wusste man aber beim Zuschauen sofort, dass diese Frau früher einmal Lederstiefel getragen hatte. Vielleicht sogar zu diesem Mantel. Vielleicht sogar sonntags auf dem Weg zur Kirche.

 

Es waren die Gummistiefel, die ihn immer und immer wieder über diese Frau nachdenken ließen. Sie trug diese Gummistiefel nicht verschämt. Sie trug sie stolz. Die graue Farbe diente nicht der Tarnung – die Farbe war eine Frage des Stils. So viel Stil, wie sie sich noch leisten konnte. Nein, diese Frau duckte sich nicht. Nicht vor den Anforderungen und Standards dieser Gesellschaft. Oder zog sie diese Gummistiefel genau aus diesem Grund an? Um vor und nach dem Kirchgang der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten: Seht her, ich bin arm und gehe trotzdem gestiefelt! Wollte diese Frau etwa lächerlich wirken?

 

Nein, je öfter er darüber nachdachte – nein, sie wollte es nicht. Sie ging ja auch nicht den Kirchweg, wenn alle ihn gingen. Sie ging ihn, wenn alle ihn gegangen waren. Oder wenn noch niemand ihn gegangen war.

 

Sie trug ihr Haar offen. Das machte sie – trotz ihres Alters – jung. Ihr Gesicht zeigte Sorgen, Hunger und Kummer. Und doch war es jung. Wenn es nicht aberwitzig geklungen hätte, hätte er ihrem Gesicht eine kindliche Anmut bescheinigt. Vielleicht hatte er sie deshalb anfänglich für irre gehalten. Vielleicht vermutete er deshalb, dass diese Frau den Weg zur Kirche suchte. Denn auch die Lebenserfahrung, die Liebe, der Harm – alles, was in ihrem Leben gewesen sein mag, war in ihrem Gesicht zu lesen. So viel Widersprüche in einem Gesicht – das ließ sich doch nur aushalten, wenn man an Gott glaubte. Er wünschte sich, dass sie an Gott glaubte. Er wünschte es sich sehr, denn so gehörte er in einem weiten Sinne zu ihr. Und er gehörte zu ihr, das wusste er. Er konnte sie nur nicht ansprechen.


© Mechthild Eissing

Die Schöne und der Schlunz

 

Er läuft ihr hinterher. Er frisst ihr aus der Hand. Er sieht ungepflegt aus. Das ist seine Pflicht. Denn sie ist schön. Morgens und abends ist sie schön. In der Nacht macht sie einen Schönheitsschlaf. Dann schläft er auf einem Bärenfell vor ihrem Bett und bewacht ihren Schlaf.

 

Sie könnte Rapunzel heißen. Heißt sie natürlich nicht. Dennoch achtet sie in jeder Minute darauf, dass ihr langes blondes Haar wie ein goldenes Vlies über ihre Schulter wallt. Meistens trägt sie es einseitig. Das beeindruckt mehr. Und es hebt ihre schmale Kopfform hervor. Ihre langen, schmalen Finger gleiten ständig liebevoll durch ihre Haare. Ihre Fingernägel sind zugespitzt wie Krallen. Doch die versteckt sie. Vielleicht, damit niemand sieht, dass sie notfalls auch bereit ist, ihre Krallen als Waffe einzusetzen.

 

Sie redet nicht viel. Ein bisschen dumm wirkt sie, doch das stört sie nicht. Sie lässt den Schlunz reden. Der redet wie ein großer Junge. Er hat auch den umwerfenden Charme eines großen Jungen. Sie wärmt ihr Herz darin, während sie zusieht, wie er redet. Sie muss nicht eifersüchtig sein – keine schöne Frau beneidet sie um den Schlunz. Doch hört ihm erst einmal zu! Sein Witz ist der eines großen Jungen. Und doch mischt sich hinzu die Weisheit des Alters. Eines Alters, das er noch gar nicht hat. Hört doch her – mein Galan, er kommt nur ein bisschen jugendlich daher. Aber von seinen Sätzen könnt ihr satt werden.

 

Nur wenn er redet, bewundert er seine Schöne nicht. Dann steht er nämlich im Mittelpunkt. Und er genießt es. Vielleicht macht er auch Männchen an ihrer Leine. So genau weiß man das nicht. Aber sie beobachtet ihn bei jeder ihrer Vorführungen liebevoll. Und er genießt es. Ihre Blicke, die Blicke der Zuhörer. Sie hat ihm ein schönes Gewand versprochen. Doch das will er gar nicht. Er beeindruckt mit seinem Witz und seinem Esprit. Und mit dem Charme eines großen Jungen wärmt er nicht nur das Herz seiner Schönen.

 

Manchmal vergisst die Schöne zu schweigen. Was dann aus ihrem Mund kommt, ist nicht nur klug und lebenserfahren. Es hat auch die Härte und Rauheit der Männer aus der Wildnis. Ihre Worte passen nicht zu ihren Händen, die sich gleichzeitig dazu bewegen wie Spinnentiere. Ihre Worte passen nicht zu ihren Augen, die sich senken, wenn einer sie anschaut. Das weiß die Schöne. Sie kennt den Mann, der aus ihr spricht. Um ihn zu tarnen, schaut sie zur Seite, wenn sie redet. Was sie sagt, das muss man sich merken.

 

Nur der Schlunz hört nicht richtig zu, wenn sie redet. Vielleicht, weil er Vieles schon weiß, was sie sagt. Vielleicht, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, ihre Schönheit zu bestaunen. Vielleicht aber auch, weil er sieht, wie ihre schlanken, langen, feingliedrigen Finger sich beim Reden in Spinnentiere verwandeln. Vielleicht, weil er befangen ist gegenüber dem Mann, der aus ihr spricht. Er kennt ihn nämlich auch. Obwohl sie ihn vor ihm verbirgt. Und er weiß – diesem Mann ist er nicht gewachsen. Kein anderer Mann auf der ganzen Welt kann die Schöne beeindrucken. Sie will nur ihn, den Ungepflegten. Ihn, den Jungen. Ihn, den Schlunz. Mit ihm ist sie sicher. Keine andere Frau nimmt ihn ihr weg. Doch der Mann in ihrem Herzen – der ist eine große Gefahr für ihn, den Jungen.

 

Was wird denn aus ihm, wenn er sich eines Tages messen muss mit diesem Mann? Wenn er eines Tages die Maske des Jungen ablegen muss. Wenn eines Tages das kleine Mädchen aus ihm spricht, das er noch nie jemandem gezeigt hat. Auch nicht der Schönen. Was wird denn aus ihm, wenn dieser versteckte Mann mit ihm abrechnet? Und was wird aus der Schönen, wenn sie diesen Mann frei lässt?


© Mechthild Eissing

Schnell wie der Wind

 

Sie fährt auf dem Radweg, stolz und schnell. Sie fährt wie der Wind. Ihr Röckchen weht über dem Sattel und hinter ihr her, ihre Haare wirft sie über die Schulter. Sie schaut hoch, stolz blickt sie ihren Vater an. Ihr Vater geht neben ihr. Stolz blickt er auf seine Tochter herab. Er weiß, dass sie nicht auf dem Radweg fahren darf. Sie ist vielleicht vier Jahre alt. Aber sie fährt wie der Wind und er lächelt zu ihr hinunter. Fahr du nur, mein Kind.

 

Er achtet nicht auf die, die seiner Tochter den Radweg streitig machen könnten. Er weiß, dass mit seiner hübschen Tochter niemand streitet. Sie fährt wie der Wind und ihr kariertes Röckchen flattert ihr um den Po. Eine kleine Dame in Stiefel und Strumpfhosen. Graue, melierte, feine Ware. Die kleine Dame ist eine feine Dame und sie strahlt ihren Vater an, denn sie fährt schnell wie der Wind.

 

Der Vater schaut auf seine Tochter herab und lächelt. Sie ist schön, seine Tochter. Sie ist mutig, seine Tochter. Niemand wird ihr ihren Platz streitig machen, seiner Tochter nicht. Auch nicht, wenn sie auf dem Radweg fährt. Fahr du, mein Kind, du bist ja schon groß.

 

Seine Frau, ihre Mutter, schiebt den Kinderwagen. Sie würdigt das Kind im Wagen keines Blickes. Sie beobachtet den Vater der Tochter, ihren Mann. Sie würdigt die Tochter keines Blickes. Sie fesselt den Vater. Sie nimmt ihn in die Pflicht. Sie setzt ihm Worte des Alltags entgegen. Aufgaben, Berichte, Bitten, Belangloses. Rede mit mir. Ich bin deine Frau, und nicht jene da.

 

Jene fährt wie der Wind. Zielstrebig und geradeaus. Sie hält das Gleichgewicht und strahlt den Vater an. Ihr Vater. Es freut sie, dass er sie lobt. Es freut sie, dass er sie liebt. Ihr Vater spricht mit der Mutter. Er sieht sie nicht. Er lobt sie nicht. Er ist ein anderer. Dieser Mann hat eine andere Stimme als ihr Vater. Wenn sie seine Stimme hören könnte, die mit der Mutter redet, sie würde diese Stimme nicht erkennen. Es ist die Stimme des Alltags, des Belanglosen, der Bitten und Aufgaben. Kannst du morgen beim Finanzamt vorbeifahren? Ja, und dann nimm bitte auch die Belege mit, sie liegen auf dem Schreibtisch. Oder ein anderes Thema. Vielleicht bittet sie ihn, den Wein für die Nachbarin zu besorgen, die morgen Geburtstag hat. Ja, das wird er machen. Beim Wein kennt er sich etwas aus.

 

Diese Stimme ist der Tochter nicht vertraut. Die Tochter lebt aus der Bewunderung des Vaters. Die Tochter lebt auf der Bühne des Vaters, die Tochter tanzt unter der Kuppel des Vaters. Die Tochter fährt auf dem Radweg. Sieh her, mein Vater. Ich tue es für dich.

 

Radfahrer überholen links, Radfahrer weichen nach rechts aus. Radfahrer lavieren sich durch, es ist die Kreuzung, das Kind ist im Weg. Ihnen bleibt keine Zeit, der Tochter des Vaters den Platz streitig zu machen. Ihnen bleibt keine Zeit, das Kind zu belächeln, das stolz fährt wie der Wind. Ihnen bleibt keine Zeit, dem Röckchen hinterherzusehen und die Verheißung zu ahnen. Ihnen ist das Kind nicht verheißen.

 

Die Tochter weicht dem Blick der Mutter aus. Sie kennt den Schmerz in ihren Augen und sie kennt die Drohung in ihren Augen. Doch die Mutter blickt sie nicht einmal an. Die Mutter blickt nicht auf die Tochter herab, sie schreitet auch nicht ein, obwohl sie weiß, dass die Tochter nicht auf diesem Radweg fahren sollte. Wenigstens nicht an dieser Kreuzung, wenigstens nicht auf dieser Straße. Die Mutter billigt den Auftritt der Tochter nicht. Sie würdigt ihn nicht. Sie schenkt ihm keine Beachtung. Die Mutter weiß, wem die Scheinwerfer und die Lautsprecher gehören, mit denen ihr Mann den Weg seiner Tochter ausstattet.

 

Die Mutter fesselt den Vater. Ich bin schön, und du siehst es nicht. Sie fesselt ihn mit der Macht ihrer Stimme. Ihre Stimme ist wie ein Gummiband. Die Mutter legt ihre Schönheit in Fesseln, sie kasteit ihren Körper, den er nicht mehr sieht, und sie gibt ihm das Maß der Strenge und Enthaltsamkeit. Die Mutter beherrscht ihren Körper – sie ist nicht mehr jung, sie hat zwei Kinder geboren. Sie hält ihren Körper unter Kontrolle. Wie eine Gerte biegt sich ihr Körper im Wind und über den Kinderwagen. Ihr Körper ist überall, wo er gebraucht wird, ungefragt. Hier eine Hand für das Kind im Kinderwagen. Dort eine Drehung für den Radfahrer aus dem Nichts. Sie redet, mit ihm, ihrem Mann, als sei er ein Fremder. Er soll den Schmerz fühlen, den er selbst gesät hat.

 

Er redet mit ihr, sie ist seine Frau, sie ist die Mutter seiner Tochter, sie zwingt ihn in seine Sätze. Er hört zu. Er liebt sie. Er hat sie geliebt. Er hat mit ihr die Tochter gezeugt. Er war ihrem Körper vertraut. Lange, auch nach der Geburt. Ihr Körper war nach der Geburt ein anderer. Auch wenn sie schon damals trainiert und gehungert hat. Nach der Geburt schien es ihm, als ob seine Frau ihre Unschuld verloren habe. Er hat es ihr nicht sagen können, er konnte es ihr nicht vorwerfen. Er hat sie geliebt. Auch nach der Geburt war ihm ihr Körper vertraut. Sie bargen einander und sie liebten einander.

 

Er lässt sich von ihrem Gespräch fesseln. Er weiß, dass sie weiß, dass sie ihn längst verloren hat. Er kann der Unschuld seiner Tochter nicht mehr ausweichen. Er sonnt sich vor den Augen seiner Frau in der Unschuld seiner Tochter. Es macht ihm keine Mühe, dabei seine Tochter oder seine Frau anzulächeln. In ihm ruht die Gewissheit, das wiedergefunden zu haben, was er nach der Zeugung und Geburt seiner Tochter verloren glaubte. Er wird die Unschuld seiner Tochter hüten, als sei sie seine eigene. Dankbar ist er seiner Frau, dass sie ihren Körper kasteit und formt – er weiß, dass auch sie den Verlust ihrer Unschuld nicht verwinden kann.

 

Im Vorbeigehen fällt doch ein Blick von der Mutter auf das Kind herab. Es ist ein Blick, den die Tochter nicht sieht und den er nicht bemerkt. Es ist ein Blick voller Schuld und Last. Hilf mir, mein Kind, geh weg, mein Kind.

 

© Mechthild Eissing

Die Laufmasche


Nichts in ihrem Gesichtsausdruck verrät, dass sie von der Laufmasche weiß. Aber vielleicht hat ihr das Alter mittlerweile doch die Kontrolle entzogen – und vielleicht weiß sie tatsächlich nichts von der Laufmasche, die sich – von welchem Ereignis auch immer ausgelöst – von ihrer Wade bis unter das enge Etui-Kleid gearbeitet hat. Ihr Gesichtsausdruck verrät aber immerhin, dass sie auch nicht eine Miene verziehen würde, wenn sie sicher von der Laufmasche wüsste.

 

Von ihrem Mann hingegen weiß sie sehr genau, dass er da ist. Er sitzt neben ihr auf der Bank vor der Fleischerei. Und er wirkt außerordentlich verloren. Dabei hat sie ihn ganz gewiss nicht verloren. Und sie wird ihn jetzt auch nicht finden. Sie würde ihn am liebsten niemals mehr finden und sie würde ihn nicht wollen, wenn sie das noch entscheiden könnte. Dieser Mann an ihrer Seite ist einfach zu deppert oder zu dappig. Wenngleich sie noch ganz andere Wörter für diesen Zustand benutzen würde, wenn sie welche fände.

 

Aber nein, diese Dame auf der Bank vor der Fleischerei ist weder auf der Suche nach Laufmaschen, noch auf der Suche nach Worten. Und schon gar nicht will sie auf ihren Mann treffen, der doch unweigerlich und Jahrzehnte schon zu ihrem Leben gehört.

 

Sie hingegen sieht eher aus, als ob sie ein Überbleibsel des vorigen Jahrhunderts ist. Präzise: Ein Überbleibsel der Weimarer Republik. Feminin gekleidet, aber nicht leise. Eine schmale Silhouette, ein zurückhaltender Schnitt, der passende Hut. Ein Sommerhut, leicht, geflochten. Einem Strohhut nicht unähnlich. In der Farbe der Orangen. Auch die Strümpfe mit der Laufmasche ordnen sich dieser Farbe zu. Wenngleich sie doch eher fleischfarben zu nennen sind. Auf dem Kleid räkeln sich Blumen und Blätter derart abstrakt, dass das Laszive ihres Dahingeworfenseins nicht mehr so recht zur Geltung kommt. Aber lasziv ist auch das falsche Adjektiv für die Dame, die ihren Mann leider nicht verloren hat und die für Laszivität nun auch schon ganz deutlich viel zu alt ist.

 

Die Dame, die auf der Bank vor der Fleischerei auf eine Kutsche wartet, die sie nie mehr abholen wird, ist eine Dame von Welt. Eine Dame voller Anstand und Würde. Eine Dame, der eigentlich nur noch die lange Zigarettenspitze fehlt. Doch auch dafür wiederum fehlt ihr die Jugend. Sie ist schlicht zu alt. Viel zu alt. Die Dame vor der Bank ist ohne Schönheit und ohne Sehnsucht. Vor allem aber ist sie nicht mehr bereit, noch irgendetwas zu suchen. Vielleicht rührt ihre fehlende Schönheit genau daher. Denn diese Dame mit dem verlorenen Mann an ihrer Seite ist keineswegs hässlich.

 

Der Mann an ihrer Seite hingegen macht den Eindruck, als ob er schon bessere Jahre gesehen hätte. Vielleicht ist er dement. Vielleicht ist er debil. Auf jeden Fall versucht er, mit der Frau an seiner Seite, von der er sich erinnert, sie vor vielen Jahrzehnten geheiratet zu haben, zu reden. Doch schon bevor sie überhaupt antworten kann, zieht er den Kopf ein. Nur ein bisschen. Vielleicht auch nur, um das Ohr ein wenig in ihre Richtung zu lenken, für den Fall, dass sie ihm antworten sollte.

 

Die Dame jedoch macht eine unwirsche Bewegung, und wirkt dabei – mit Verlaub gesagt – ein wenig dämlich. So als ob sie eine Fliege verscheuchen wolle. Und doch ist der Bewegung ihrer Hand anzumerken, dass sie um die Nutzlosigkeit dieses Vorhabens weiß. Und damit ist die ganze Geste nur ein großes Schauspiel. Angelegt darauf, den Mann an ihrer Seite zu verletzen.

 

Der Mann an ihrer Seite, das sieht man sehr genau, ist nicht nur seit langem schon sehr verletzt. Er ist auch verhungert. Sowohl am Körper, der um den Bauch herum einen großen, hohlen Haken schlägt, als auch in der Seele. Nun ist es schwer, einen Ausdruck der Seele einzufangen. Doch die übergroßen Augen des Mannes, der wie verloren neben seiner Ehefrau auf der Bank vor der Fleischerei sitzt, geben sehr beredt Auskunft über den Zustand seiner Seele. Sie sind groß, tiefschwarz und leer. Alles, was der Mann sieht und ersehnt, kann nur ins schwarze Nichts fallen. In das große Loch, das sich hinter seinen Augen verbergen muss.

 

Da sie ihm nicht antwortet und nicht antworten wird, hebt er seine Hand – um ihrer Handbewegung Einhalt zu bieten. Vielleicht auch, um die Erinnerung zu wecken, wie er einst um diese Hand angehalten hat. Nein, um diese Hand nicht. Er hatte nur die rechte Hand erhalten. Mit der Linken entzieht sie sich ihm jetzt.

 

Die Dame, die so gut in eine Zeit gepasst hätte, zu der sie noch nicht einmal geboren war, wirkt, bis auf ihre verlorene Handbewegung, wie eine Statuette. Wäre sie kleiner, man könnte sie als Figürchen neben den Tänzerinnen auf die Fensterbank stellen oder aufs Vertiko. Vielleicht auch in den Schrank. Nein, der Schrank ist zu einschränkend. Diese Figur ist auf Freiheit ausgelegt. Und allein diesem Bedürfnis ist es zu verdanken, dass die Dame, die sich so sehr um Figürlichkeit bemüht, ihren Mann an ihrer Seite als verloren betrachtet. Sie kann sich ihm nicht zuwenden, geschweige denn hingeben. Dieser Mann trägt offensichtlich die Spuren des Todes in und mit sich.

 

Er wird sie mitnehmen. Er wird sie anstecken. Er wird sie in den Tod reißen. Sie kann den Speichel aus seinem Mund tropfen sehen, obwohl sie ihn gar nicht anschaut. Sie kann seine Ausdünstungen riechen, die längst nicht mehr dem Geruch vergorenen Schweißes gleichen. Es ist der Geruch der Verderbnis, des Verfalls, den sie nicht ertragen kann.

 

Die Frau an der Seite des Mannes, der den Tod schon in sich trägt, hat sich vor ihm versteckt. Sie ist geflohen – in eine andere Zeit, in einen anderen Stand. Denn eines verrät ihre Laufmasche sehr wohl, auch wenn die Dame selbst es noch so beflissen ignoriert: Die Strümpfe sind keineswegs aus Seide – und sie entsprechen überhaupt nicht der Vorstellung, die sie selbst vom Grand Siecle hat. Auch die Kleider sind mehr aus Polyester als aus Samt und Seide. Niemand weiß es besser als sie selbst: Stil ist auch eine Frage des Geldes. Und Geld, das verrät ihre beharrliche Standhaftigkeit, hat sie noch nie gehabt. Zumindest hat sie es nie im Überfluss gehabt. Ihr ganzes Leben lang musste sie durch Disziplin, Standhaftigkeit, Beharrlichkeit und auch durch Ignoranz überspielen, dass das Geld nicht für ihre Zwecke reicht.

 

Es hat auch nie ganz zum Leben gereicht. Dass es zum Hungern genug war, kann man sehen, wenn man den Mann an ihrer Seite betrachtete. Er mag schwer gearbeitet haben. Sein Körper besteht aus Sehnen und Knochen, die an Stellen sichtbar werden, an denen man zugleich Muskeln erwarten würde. Fleisch trägt er nicht unter seiner Haut. Nein, der Mann besteht aus Haut, Knochen und einem schäbigen Anzug. Weißes Haar, recht schütter. Und ein sabbernder Mundwinkel.

 

Dass er vor der Fleischerei mit seiner Frau auf eine Kutsche wartet, die sie beide auch in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts niemals abgeholt hätte, weiß dieser Mann nicht. Er wartet nur darauf, dass ihn seine Frau an die Hand nehmen wird. Dann erst wird er sterben können. An welchem Ort dies sein wird, ist ihm vollkommen egal. Er wird ihr folgen. Bis in den Tod. Sie ist seine Frau. Auch wenn er sich nur noch vage daran erinnern kann, dass er sie vor Jahrzehnten geheiratet hat.


© Mechthild Eissing 

Die Giftkröte

 

Die Giftkröte sitzt bei Festen und Feiern gern etwas in der Ecke. Aber sie sitzt immer an einem Ort, an dem sich mehrere Gesprächsfetzen kreuzen. Einem Ort, an dem sich Blicke schneiden, einem Platz, an dem sich Laute beißen. Lange Zeit sitzt die Giftkröte still und ruhig. Sie will niemanden stören, niemanden unterbrechen. Das macht sie nicht aus Höflichkeit, auch nicht aus Schüchternheit. Die Giftkröte sammelt.

 

Sie sammelt Launen, Einstellungen, Empfindungen, Verletzlichkeiten. Sie sammelt und klaubt alles auf, was sich an das gesprochene Wort hängt. Während sie mit ihren narbigen Händen den Kuchen auf dem Teller zerteilt, ordnet ihr Hirn blitzschnell Empfindlichkeiten zu Charakteren, Vergangenes zu Verbotenem, Versprochenes zu Verlorenem. Niemals sind ihre Zuordnungen kalt.

 

Sie schlürft genüsslich und erwartungsvoll den Kaffee. Abends darf es gern auch ein Wein sein. Während ihr das Getränk warm den Hals hinunterrinnt, feilt und kaut ihre Zunge bereits an ihren unausgesprochenen Worten. Nun braucht sie keinen Kuchen mehr, keine Knabbereien. Sie saugt die Worte aus und füllt sie mit neuem Inhalt. Wer ihr zuguckt, meint ihr Schmatzen zu sehen. Hören kann man es nicht.

 

Und dann, irgendwann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, an dem innerhalb der Gesellschaft alles gesagt ist, was zu sagen war, oder dann, wenn einfach nur eine kleine Pause voller Stille eintritt, in der alle anderen Gäste ihre Gedanken neu ordnen, das Gehörte noch einmal vor dem inneren Ohr wiederholen, wenn die Atemlosigkeit des Treffens der Ruhe weicht, dann schnellt die lange, giftige Zunge der Kröte hervor.

 

Und sie spuckt und stößt Worte aus ihrem Hals, die wirken wie nie gehört, wie unverschämt, wie unaussprechlich und durch und durch verdorben. Mit ihrer langen Zunge leckt sie schließlich das Entsetzen auf, das ihren Zuhörern aus den Mündern tropft. Sie weidet sich und nährt sich, mit Muße, Freude und Zeit.

 

Gelegentlich gibt es einen Gast, der den Schneid besitzt, ihr das Wort zu nehmen, sie der Lüge zu bezichtigen, ihr Unverschämtheit vorzuwerfen. Doch all diesen Vorwürfen gegenüber ist die Giftkröte gewappnet. Sie hat nichts anderes gesagt, als sie heute auf diesem Fest vernommen, gerochen, geahnt, gemischt und verstanden hat. Immer beruhen ihre Verwünschungen und Verurteilungen, ihre Beschimpfungen und Schändungen, ihre Beleidigungen und Verirrungen auf dem, was die Gäste zuvor noch mit Empörung oder Freude, mit Trauer oder Angst, mit Neugier oder Gier, mit Wut oder Liebe, mit Hass oder Zuneigung erzählt haben.

 

Ist dort tatsächlich ein Gast, der den Kampf mit ihr aufnimmt, ist das für die Giftkröte der Höhepunkt des Festes. Ihr Gehirn arbeitet noch schneller als zuvor. Es verknüpft all die Worte dieses Festes mit all den Worten zuvor. Ihr Gedächtnis reicht zurück bis zum Buch Deuteronomium. Aus diesem biblischen Werk zitiert sie Regeln und Erfordernisse, wirft sie dem Widersacher zum Schrecken hin, enttarnt ihn und verurteilt ihn.

 

Endet ein solcher Kampf, ist es schon oft vorgekommen, dass ihr Widersacher mit gesenktem Kopf das Fest vorzeitig verlässt. Meist aber endet ein solcher Kampf nicht, da ihre Gegner aus Erfahrung bereits nach dem ersten Satz die Waffen strecken.

 

Am Ende der Feier ist es die Giftkröte, die sich am herzlichsten, am überschwänglichsten und am lautesten für das Fest bedankt. Und man darf gerne glauben, dass auch tatsächlich sie es ist, die das Fest am meisten genossen hat.


© Mechthild Eissing

Kein Kinderschänder

 

Er guckt gern den Kindern zu. Auf dem Spielplatz, im Supermarkt, auf dem Weg zur Schule. Sie haben so etwas Leichtes, so etwas Unbeschwertes. Und doch tragen sie das Böse in sich. Sie zeigen es sogar offen. Sie schlagen, wenn sie verletzt sind. Sie schlagen aber auch, wenn sie Stärke zeigen wollen. Sie schlagen auch ihre Freunde, nur nicht so fest.

 

Um diese Art, unbeschwert böse sein zu können, beneidet er die Kinder. Er schlägt nicht. Er hat auch niemanden mehr, den er schlagen könnte. Seine Frau ist gegangen. Eines Tages war sie weg. Dabei hatte er sie nie geschlagen. Sie hasst ihn, weil er ein Duckmäuser ist. Das hat sie zumindest immer behauptet. Ein Duckmäuser, ein Schlappschwanz. Er hat sich nie gewehrt, ihre Worte taten ihm weh. Er hat sie doch geliebt. Wie konnte jemand, der geliebt wird, so etwas sagen? Im Grunde genommen hat er nie verstanden, warum sie ihn gehasst hat. Vielleicht sogar für seine Liebe. Manchmal glaubte er, sie wäre bei ihm geblieben, wenn er sie geschlagen hätte. Ihr fehlte es, Angst haben zu müssen. Sie hatte ihr ganzes Leben lang Angst gehabt. Und nun, vor dem neuen Mann kann sie wieder Angst haben. Er sieht es in ihren Augen, wenn die beiden über die Straße gehen. Er braucht nur aus dem Fenster zu schauen, um seine Frau mit ihrem neuen Mann über die Straße gehen zu sehen.

 

Wenn er so aus dem Fenster schaut, wäre er gern böse. Böse wie die Kinder auf dem Schulweg. Wenn er in den Wald geht, tritt er manchmal auf alles, was lebt. Meistens sind das Käfer oder Ameisen. Meistens sind diese Tiere so klein, dass nicht einmal ein Gefühl übrig bleibt. Nein, man merkt es nicht einmal, wenn man eine Ameise zertritt.

 

Einmal hatte er Glück. Eine Schnecke mit Schneckenhäuschen schlich sich am Wegesrand entlang. Verstohlen hatte er sich umgeschaut. Und dann war es, als ob sich ein Ventil gelöst hätte: Alle aufgestaute Wut platzte aus ihm heraus, voller Freude, Bosheit und Genuss stampfte er auf das arme Tier ein. Die Kalksplitter zerquetschten den glitschigen Körper. Das Knirschen unter der Fußsohle löste die Bande um sein Herz. Er konnte befreit atmen. Endlich frei atmen. Schließlich zermalmte er noch sorgfältig den glibberigen Leib. Er dachte an die Bosheit der Kinder, er dachte an die Angst in den Augen seiner Frau. Er spürte den Schmerz, den sie empfindet, wenn der neue Mann sie schlägt. Denn auch das kann er sehen. Aus seinem Fenster heraus. Sie wohnen im Häuserblock gegenüber.

 

Wenn er nicht so großes Glück hat, wenn Käfer und Ameisen, Schnecken und Ungeziefer sich vor ihm verstecken, dann setzt er sich gern auf die Bank gegenüber vom Spielplatz. Das Lachen der Kinder befreit, lässt ihn atmen. Hier hat die Bosheit seltsamerweise keinen Zutritt. Vielleicht ist es, weil die Mütter und Väter Hass und Neid gleich in ihren Anfängen in rechte Bahnen weisen. Die Mütter und Väter regeln, wem welcher Bagger gehört. Und sie regeln, dass man einen Bagger auch mal ausleihen kann. Sie greifen ein, wenn es an der Rutsche eine Rangelei um den ersten Platz gibt, und sie greifen ein, wenn doch einmal ein Kind zuschlägt. Trotz dieses Friedens und dieser inneren Ordnung, die dem Treiben auf dem Spielplatz zugrunde liegen, gönnt er sich hier hin und wieder fünf Minuten der Qual. Eine kleine Delikatesse in seinem gezügelten Alltag.

 

Dann schließt er seine Augen, beamt sich auf den Spielplatz, krallt sich eines der Kinder, verdreht ihm Arme und Beine, legt es auf den Bauch und tritt auf das Rückgrat bis es knirscht. Es knirscht viel lauter als ein Schneckenhaus. Es knirscht so laut, dass er erwacht und sich zusammenreißt. Nein, er ist kein Kinderschänder. Er steht auf und geht. Beschämt.

 

Auf dem Rückweg ist er selbst ein Kind. Auf dem Heimweg vom Spielplatz findet er einen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Halbtot. Er hebt ihn auf, das Tier fühlt sich noch warm an. Es öffnet den Schnabel, doch das Piepsen gelingt ihm nicht mehr. Der Junge setzt es auf den Boden, haucht den Vogel an. Er soll wieder leben. Er soll wieder zu sich kommen. Doch der Vogel bleibt verletzt und reglos liegen. Der Junge betet. Der Vogel soll wieder leben. Er soll wieder fliegen. Es passiert nichts.

 

Damals, als das mit dem Vogel passiert ist, ist der Junge, der er damals war, wütend geworden. Bei lebendigem Leib hat er den Vogel auseinandergerissen. Bis die blutigen Eingeweide herausquollen.

 

Die Scham darüber überfällt ihn noch heute, wenn er von seiner Spielplatz-Besichtigungs-Route nach Hause zurückkehrt. Doch er ist kein Kinderschänder. Niemals würde er jemanden schlagen. Zuhause kocht er sich einen Kaffee. Frei atmen, ja, das würde er gern. Es ist ihm aber nur selten gegönnt.


© Mechthild Eissing

Die Schweigerin

 

Sie ist eine Frau der leisen Töne. Deswegen vermeidet sie jedes Geräusch, das von ihr selbst ausgeht. Sie geht nicht nur auf leisen Sohlen, sie hat auch ihrem Schlüsselbund das Klimpern untersagt. Ja richtig, das ist nicht ganz einfach. Aber sie hat einen Hersteller gefunden, der das Prinzip des Taschenmessers auf Schlüssel übersetzt hat. So trägt sie ihren Schlüsselbund in der Hosentasche, als sei es ein Schweizer Taschenmesser. An den Türen, die sie öffnen darf, klingelt und rasselt sie also gar nicht. Und bislang ist es ihr noch immer gelungen, spätestens beim dritten Mal, ein Schloss geräuschlos aufzuschließen. Kein Schloss schnappt, knackt, knarzt, quietscht, ziept, zirpt unter ihren geschickten Fingern. Sie weiß, wann sie eine Tür vorsichtig anziehen muss, sie weiß, wann sie sie gegen das Schloss drücken muss, sie weiß, wann sie das Schloss mit dem Zeigefinger gegen die Tür drücken muss – und sie hat auch immer ein kleines Kännchen Maschinenöl in der Handtasche. So gelingt es der Frau der leisen Töne, plötzlich und unangekündigt mitten im Raum zu stehen. Überall dort, wo man sie kennt. Überall dort, wo sie zuhause ist. Im Büro. In der Familie. Überall dort, wo man ihr einen Schlüssel gegeben hat. Überall dort, wo sie den anderen Menschen unangenehm ist.

 

Und dann steht sie da. Plötzlich. Mitten in einem Gespräch, das nicht für ihre Ohren bestimmt ist. Niemand hatte sie kommen hören. Im darauf folgenden betretenen Schweigen will dann auch niemand sie so recht willkommen heißen. Doch gerade in dieser verlegenen Stille, in der die Schweigende sich als die nicht anwesend geglaubte Zuhörerin entpuppt, die noch dazu keiner so recht mag, fühlt sie sich ausgesprochen wohl. Sie schweigt nun mit und gegen die Gruppe – und tut dennoch so, als merke sie die Verlegenheit der Umstehenden nicht.

 

Die Worte aber, die im Raum nicht mehr ohne ihre Ohren verhallt sind, die sammelt sie schweigend in ihrem Kopf. Gleich hinter den Ohren müssen Schubfächer sein, alphabetisch, nach Namen geordnet, voller Sätze, die sie nicht hätte hören dürfen. Diese Sätze, das weiß sie, sind bares Geld wert. Aber Geld will sie gar nicht. Noch nie hat sie für einen dieser Sätze Geld gefordert. Was sie will – und auch fordert – das ist Achtung. Die wiederum hat sie noch nie erhalten. Aber das, was sie für ihre Forderung, die sie vom Gegenüber erschweigt, erhält, ist mehr als Geld. Die Schweigerin bekommt für ihre Verschwiegenheit alles, was sie braucht, um gut leben zu können.

 

Die Schweigerin schleicht sich immer und aus Prinzip leise und schweigend in Gespräche ein und sammelt. So lange, bis die Gruppe, in die sie unbemerkt eingedrungen ist, ihr eigenes betretenes Schweigen nicht mehr ertragen kann und sich in ihre Einzelpersonen auflöst. Es ist jedes Mal die gleiche Prozedur – fast so, als sei sie zwangsläufig. Oder so, als sei sie vorgeschrieben. Irgendwer braucht etwas zum Trinken, ein anderer sucht ein Taschentuch oder die Toilette. Irgendwer kramt nach seinem Handy – und noch ein anderer muss schnell mal eben schauen, ob die Parkuhr abgelaufen ist. Übrig bleibt fast jedes Mal der Sprecher, der diesen einen Satz gesagt hat, den er nicht hätte sagen sollen und sie nicht hätte hören dürfen. Einen Satz, der an die richtige Stelle gebracht, sein gutes Geld wert wäre. Oder einen Satz, für dessen Verschweigen sie gut und gern auch viel Geld fordern könnte.

 

Ich sage nichts, sagt sie dann, wenn der unglückliche Sprecher ihr am Ende ganz allein gegenübersteht. Und dann schweigt sie wieder. So, wie sie es immer macht. Und geht auf leisen Sohlen zur Tür zurück. Triumphierend. Schon wieder hat sie einen Menschen gewonnen, der sie achten muss.

 

Als sie noch ein Mädchen war, da hatte sie gedacht, sie könne sich mit diesem Schweigen die Liebe ihrer Geschwister erkaufen. Aber sie hatte schnell gelernt, dass das Gegenteil der Fall war. Nie hatte sie auch nur das kleinste Geheimnis den Eltern verraten – und doch war sie unter sechs Geschwistern das einzige Mädchen gewesen, das niemand so recht leiden konnte. Es war ihr bitter geworden. Bis sie in ihrer Einsamkeit lernte, mit Blicken Forderungen zu stellen. Das war der Zeitpunkt, an dem sie begann, mit ihren Geheimnissen einen schweigenden Handel zu treiben. Kurze, stechende Blicke genügten, wenn sie Forderungen stellen wollte. Gern nahmen ihr die Geschwister Einkäufe, Putzdienste und sogar Hausaufgaben ab. Am Ende war sie so weit gegangen, ein schwarzes Buch anzulegen, in das sie alle Geheimnisse eintrug.

 

So war aus einer Eigenart im Laufe der Jahre eine Berufung geworden. Ihre Geschwister waren eigene Wege gegangen, ihre Eltern waren gestorben, ihre Einsamkeit aber war geblieben.

 

Heute braucht sie kein schwarzes Buch mehr. Vor allem aber braucht sie sich nirgends zu bewähren. Es gibt immer jemanden, der ihr zu Dank verpflichtet ist. Es gibt immer jemanden, der sie eine Stufe auf der Karriereleiter hochschiebt. Es gibt immer jemanden, der ihr einen Vorteil verschafft.

 

So ist sie in einer Stadt, in der es kaum bezahlbare Wohnungen für Alleinstehende gibt, an ein wunderschönes Loft gekommen. Sie hat eine gut bezahlte Stellung, in der sie ihre Arbeit nach eigenem Gutdünken gut oder schlecht verrichten kann. Denn sie hat auch einen Chef, der ihrem Schweigen verpflichtet ist.

 

Die Frau auf leisen Sohlen hat alles, was man zum Leben braucht. Doch wenn sie in ganz stillen Momenten mit ihrem eigenen Leben in Berührung kommt, schweigt sie immer noch. Und das Leben schweigt zurück. So, als ob es ihre Forderung überhört hätte.

 

© Mechthild Eissing

Der Herrscher an der Wand

 

Ihr Blick fällt aus dem Fenster. Es ist nur die dritte Etage, es ist nicht einmal sehr hoch. Sie steht auf einem dicken, flauschigen Teppich. Neben ihr tänzeln etwa zwanzig andere Menschen durch den Raum. Sie sieht, wie sich auf der Kreuzung die Stromleitungen überschneiden. Die Straßenbahn klingelt laut und undurchdringlich. Noch eine Viertelstunde später, wenn sie längst nicht mehr in der Wohnung sein wird, hört sie das Klingeln in ihrem Kopf.

 

Die anderen Menschen stellen Fragen, sie geben sich weltgewandt, wichtig, überzeugend. Gesucht sind Nebensätze, die das eigene Einkommen hervorheben, ohne aufdringlich zu wirken. Sie besichtigt die Wohnung, als wäre sie zu Gast auf einem anderen Planeten. Auch die anderen Menschen kommen aus anderen Welten. Vorsichtig setzt sie ihre Schritte auf den flauschigen Teppich der Menschen, die hier wohnen. Es sind Perser und offenbar haben sie Besuch. Während die fremden Menschen auf Zehenspitzen die Wohnung inspizieren, sitzen die Besucher mit den Mietern am Tisch, als wären sie allein.

 

Zwei große, bequeme Sofas wurden zusammen mit zwei Polstersesseln zum Rechteck zusammengerückt. In der Mitte, auf dem Tisch, steht eine bauchige Kanne mit Tee. Kleine Tassen aus Glas stehen vor den Mietern der Wohnung und vor den Gästen, die wahrscheinlich ihre Eltern sind. Die hohen Lehnen der Polstermöbel schirmen Gäste und Zaungäste voneinander ab. Zaungäste sind sie, Zaungäste auf Wohnungssuche, Zaungäste ohne Zaun. Nur die Lehnen der Polstermöbel vermitteln Abgeschiedenheit. Die Insassen sitzen abgeschieden auf der Teppichinsel aus flauschigen Fasern und Farben, lindgrün, bleu, rosé.

 

Auch das Sofa ist pastellfarben, hellblau, hellgrün, rosé. Eine Puppenwelt und keine Puppenwelt. Das Gewicht der Möbel hält dem Leben stand. Die Familie, die hier noch wohnt, hat einen fünfjährigen Sohn. Der Makler bemüht sich, die Grenzen der Gesprächsbereitschaft höher zu setzen. Dies hier ist seine Show. Seine Gäste sollen nur am Zaun stehen und gucken. Die Perser stören ihn, denn sie besichtigen die Zaungäste. Unaufdringlich zwar, aber auch ungebeten.

 

Die Mieter sind höfliche Menschen und höfliche Gastgeber. Sie sehen den Zaun nicht, den sie achten sollen. Dennoch wenden sie sich wieder ihren Teetassen zu, die Hausfrau schenkt nach. Niemand der Zaungäste hat ihnen eine Frage gestellt. Niemand der Zaungäste wartet auf ihre Antwort. Der Makler achtet auf Artentrennung. Es sind keine fremden Leute zu Besuch. Es gibt keine zwei Welten in diesem Raum. Gewiss, die Glastür im Flur wird noch repariert werden. Alle potenziellen künftigen Mieter füllen nun Zettel aus, die anderen dürfen gehen. Sie tun es, ohne sich von jemandem zu verabschieden.

 

Die Besucherin vom anderen Stern hat ihren Blick von der Kreuzung genommen. Das Gewirr aus Stromleitungen und Drahtseilen, Lampen und Beleuchtungen ängstigt sie. Sie hatte nicht gewusst, dass die Großstadt so anders ist. Sie lässt ihren Blick über die Besuchergruppe schweifen. Er findet keinen Halt. Schließlich werden ihre Augen verschluckt von dem großen Überwacher. Sie sieht ihn und ist erschrocken. Kein Wort, kein Blick, kein Zeichen hatte seine Anwesenheit verraten. Überlebensgroß hängt das Gesicht des großen Überwachers an der Wand.

 

Es fehlt der Altar, der dem Betrachter Raum gibt, um Gnade zu bitten. Es fehlen die Kerzen, die dem Betrachter die Möglichkeit geben, dem großen Überwacher zu huldigen. Es fehlt der barocke Rahmen, der die Strenge der Gesichtszüge mit seinen verspielten Schnörkeln untermalen und kontrastieren könnte.

 

Der große Überwacher herrscht nur mit seinem Blick von der Leinwand aus. Er blickt auf die Besucher und auf seine Familie. Die Betrachterin lässt ihren Blick erschrocken zu Boden fallen. Sie ist beschämt, sie ist erniedrigt, sie betet ihn nicht an. Ein Köpfchen ist es, zur Gottheit erhoben, eine Liebe ist es, zur Anbetung erstarrt, eine Herrschaft ist es, die nicht auf sie gerichtet ist.

 

Die Besucherin nimmt einen der weißen Zettel des Maklers und setzt ihren Namen in die leeren Felder. Den Blick des Kindes, dessen Kopf in dreifacher Lebensgröße vom Foto auf die Leinwand produziert wurde, den Blick des Kindes, dem die Anmut und Zierlichkeit, die Unsicherheit und Lebendigkeit durch dreifache Vergrößerung genommen wurde, wird sie auch nicht vergessen, wenn das Klingeln der Straßenbahn längst verklungen ist.


© Mechthild Eissing

Der Katastrophenerzähler

 

Der Katastrophenerzähler ist überall zu Gast. Niemand wagt es, ihn hinauszukomplimentieren. Er lädt sich ein auf eine Tasse Tee, auf eine Tasse Kaffee. Er will aber keineswegs zur Last fallen. Nur in wenigen Häusern ist der Katastrophenerzähler ein gern gesehener Gast. Man sitzt am Tisch, man trinkt, man redet und die Zeit wird zäh. In klebrigen, schweren Tropfen rinnt sie langsam am Tischbein hinunter. Sie lähmt die Ohren und die Füße. Außer seinen Geschichten bringt der Katastrophenerzähler meist noch eine Kleinigkeit mit: Süßes für die Kinder, Wein für den Hausherren, Kaffee oder Blumen für die Hausfrau. Man kann dem Katastrophenerzähler nichts vorwerfen. Er ist nett, er ist höflich, er ist gut erzogen.

 

Und doch: Seine Geschichten lähmen nicht nur die Zeit, sie lähmen auch das Herz. Sie haben einen Widerhaken, sie bohren sich fest, sie lassen stutzen. Das Leben geht danach nicht mehr reibungslos weiter. Vor kurzem erzählte er einem kleinen Mädchen die Geschichte von der großen Feuersbrunst. Ein ganzer Straßenzug hatte gebrannt. Das war vor Jahrzehnten gewesen, in den Jahren des Aufbaus, nach dem Krieg. „Sind auch Menschen dabei gestorben?“, fragte das kleine Mädchen, das den Tod bislang weder gesehen noch gerochen hatte. Der Katastrophenerzähler wusste, dass die Feuerwehr die meisten Menschen gerettet hatte. Nur ein kleines Kind war in den Flammen umgekommen. Er hatte es noch brennend durchs Treppenhaus laufen sehen. Nachdem das Feuer gelöscht war, fand man seine verkohlte Leiche unter dem Türsturz eines Hauseingangs. Der Katastrophenerzähler erzählte seine Geschichte, er begann auch von dem brennenden Mädchen zu erzählen. Dann schaute er in den Augen seiner Zuhörerin, erschrak ob der Funken, die er in ihrem Auge sah – und seine Geschichte nahm ein neues Ende. Brennend wie eine Fackel war das kleine Mädchen damals aus dem Haus herausgerannt. Er selbst war einer der Feuerwehrmänner gewesen. Sofort hatte er die Flammen gelöscht. Lange hatte das kleine Mädchen im Krankenhaus gelegen, es war ja auch viel Haut verbrannt. „Aber dann konnte sie wieder lachen?“, fragte seine Zuhörerin. „Ja, dann konnte sie wieder lachen!“, bestätigte der Katastrophenerzähler und freute sich selbst über das glückliche Ende seiner Geschichte.

 

Das kleine Mädchen, das ihm zugehört hatte, spürte aber seine Verletzung. Es spürte sie und es roch den Tod. Ohne ihn zu kennen, nahm sie ihn mit sich in ein neues, in ein anderes Leben. Nun gab es die Gefahr, die Flammen und den Tod. Das Mädchen war nicht mehr klein. Und die Schokolade, die der Katastrophenerzähler ihm jedes Mal mitbrachte, schmeckte von diesem Tag an bitter.

 

Die Eltern des Kindes aber, bei denen der Katastrophenerzähler an diesem Tag zu Gast gewesen war, merkten nicht, dass ihre Tochter ihre Fröhlichkeit verloren hatte. Sie merkten nicht, dass es aus dem Wohnzimmer ging, wenn in den Nachrichten ein brennendes Haus gezeigt wurde. Die Eltern des Kindes wunderten sich nur, dass ihre Tochter keine Schokolade mehr aß. Und dass ihre Sätze erwachsener klangen. „Das ist die Pubertät“, sagte die Mutter. „Ja, unsere Tochter wird eine Frau“, bestätigte stolz der Vater. Dann schüttelte er sich. „Weißt du noch, Frau, wie der Katastrophenerzähler unsere Tochter neulich angesehen hat? Vielleicht hat er damals schon gemerkt, dass nun eine kleine Frau aus ihr wird.“ Die Frau dachte nach. „Ja“, erinnerte sie sich. „Er hat damals seine Geschichte unterbrochen. Er musste nach einer Pause wieder neu anfangen zu erzählen. Das ist ihm noch nie passiert. Bei keiner Katastrophe.“ „Ja“, lächelte der Mann. „Ihm ist vielleicht die junge Frau begegnet.“


© Mechthild Eissing

Und doch ist es Liebe


Es ist eine Liebe, deren Erregung darin besteht, dass sie nicht bestehen darf. Es ist eine Liebe, deren Erregung nicht im Mindesten bekannt werden darf. Nicht ihm, nicht ihr, nicht den anderen. Es ist eine Liebe, die den anderen nicht bekannt werden darf. Es ist eine Liebe, deren Erregung für alle anderen längst sichtbar ist, auch wenn er sie sich nicht zugesteht.

 

Er genießt die Bewunderung, die er in ihren Augen sieht. Sie spiegelt ihn. Er genießt die Anbetung, die er in ihren Augen sieht. Sie huldigt ihm. Er weiß, dass er die Anbetung nicht genießen darf und senkt demütig den Blick. Er wendet sich ab.

 

Sie schämt sich, denn sie will ihn nicht herausfordern. Sie weiß, dass sie ihn nicht lieben darf. Sie weiß, dass er weiß, dass sie ihn dennoch liebt. Sie brauchen nicht darüber zu reden. Es ist viel zu kompliziert.

 

Er weiß, dass sie weiß, dass er sie nicht lieben wird. Er darf nicht und er kann nicht. Er ist kein Liebhaber. Nur in der Negation, im Verbot, ist er ein guter Liebhaber. Dürfte er lieben, er könnte es nicht. Dürfte er lieben, er würde sie beschmutzen und benutzen, gebrauchen und verbrauchen. Er könnte keinen Dank empfinden, keine Lust und keine Hinwendung. Keine Hingabe und keine Sehnsucht. Er liebt sie nicht.

 

Sie bleibt bei ihm, denn sie will nicht mehr geliebt werden. Liebe ist so verletzend. An den Verletzungen, die sie von ihm empfängt, ist er unschuldig, denn es ist unbestritten, dass er sie nicht lieben darf. Sie ahnt sogar, dass er sie gar nicht lieben will. Sie ahnt, dass er gar nicht lieben kann. Das macht ihre Liebe nur sicherer. Ihr kann nichts passieren, ihr wird nichts passieren, die Liebe, die er ihr nicht zu geben vermag, die wird er ihr auch niemals nehmen können.

 

Sie liebt ihn.

Er weiß nicht, was Liebe ist.

Er zweifelt.

An sich.

Am Leben.

 

Wäre der Zweifel nicht, er würde sie vielleicht lieben. Doch das weiß er nicht. Sie weiß es aber. Sie darf nur nicht darüber reden. Und die anderen, die niemals wissen dürfen, wie sehr sie sich lieben, die wissen dennoch, dass sie sich lieben könnten, wenn er es ihnen nicht verböte.

 

Es ist ihm gar nicht verboten, sie zu lieben.

Das Verbot ist ihm ein Vorwand.

Es ist ihm nicht erlaubt, sie zu lieben.

Doch wer könnte ihn hindern?

Das Verbot ist ihm nur ein Vorwand.

 

Sie läuft neben ihm her wie ein Hündchen.

Sie liebt ihn.

Doch das wird sie ihm niemals sagen. Sie wird sich ihm opfern. Schweigend.

Er weiß es. Sie hofft, dass er weiß. Auch um das Opfer.

 

Er trägt ihr den Schal hinterher, den sie im Bus liegen gelassen hat. Er würde ihr den Schal gern um den Hals legen.

Er trägt ihr seine Schuld hinterher. Er würde ihr seine Schuld gern in die Hände legen. Er würde seine Schuld gerne liegen lassen. Egal wo, sogar im Bus.

 

Er würde sich ihr gern anvertrauen, so wie er ihr den Schal in die Hände gelegt hat. Er weiß, dass sie weiß, dass er gerne würde, aber nicht könnte und nicht darf. Er würde sich gern entschuldigen bei ihr. Doch er braucht sie noch.

 

Er braucht sie, um zu fühlen, dass er allein ist. Nur dann ist er sicher. Sein Beruf ist der Beruf eines Mannes, der allein bleibt, obwohl er zu allen geht. Sein Beruf ist der Beruf eines Mannes, der sich an alle wendet, an den sich alle wenden können. Sein Beruf ist der Beruf eines Mannes, der die Hinwendung kennen sollte.

 

Er kann seine Liebe nicht zeigen. Er kann nicht lieben und sich nicht wenden, er kann nicht hin und nicht her. Er würde sich ihr gerne anvertrauen. Doch er weiß, dass sie weiß, was er nicht kann. Er braucht sie. Vielleicht liebt er sie sogar. Aber es ist ihm nur deswegen möglich, weil er es sich verbietet.


© Mechthild Eissing

Die Arbeitende

 

Sie arbeitet viel und sie opfert sich gern. Nicht unbedingt im Licht der Öffentlichkeit, wie man meinen sollte. Das Opfer und die Arbeit sind für sie selbst wichtig. Sie will kein überschwängliches Lob. Gegen ein bisschen Anerkennung hat sie aber nichts. Niemals jedoch würde sie Dank einfordern. Nein, sie hat geholfen, ohne gebeten worden zu sein. Und ihre Hilfe und ihre Arbeit ist ihre Form der Dankbarkeit.

 

Mögen andere ihr ihre zur Schau getragene Selbstlosigkeit vorwerfen, sie weiß, dass dieser Vorwurf nicht trifft. Es ist nicht die Selbstlosigkeit, die sie zur Aufopferung getrieben hat. Es ist der Riss, der sie für Jahrzehnte in zwei Hälften geteilt hat, in zwei Vergangenheiten.

 

Niemals musste sie sich ihre Arbeit suchen. Im Gegenteil, es gab keine Möglichkeit, der Arbeit zu entrinnen. Nicht in der ersten und nicht in der zweiten Vergangenheit.

Damals, das war die Kindheit. Und dann wurde das Damals durchgeschnitten. Die zweite Vergangenheit war die Nachkriegszeit. Beide Zeiten waren reich an Arbeit. Der Krieg trennte sie in ein Vorher und in ein Nachher. Noch heute teilt sie manchmal die Geschichte ein in zwei Spalten: vor dem Krieg und nach dem Krieg. Kein Geschichtsbuch kann ihr helfen, diese Spalten wieder zusammenzufügen. Die Bilder der Menschen in beiden Spalten sind zu verschieden.

 

So lebte sie mehr als zwei Jahrzehnte mit zwei Vergangenheiten. Vielleicht ist es die Arbeit gewesen, die immer da war, die sie zuerst nicht hat spüren lassen, wie ihre Welt auseinandergerissen wurde. Sie hatte Freunde verloren, ohne es zu merken. Die Werte ihrer Kindheit galten in der Nachkriegszeit nicht mehr. Vielleicht hatten sie auch schon vorher nicht mehr gegolten. Im Krieg nicht, und in der Zeit davor auch nicht mehr. Die Gesichter waren jedoch geblieben, die Menschen waren geblieben, nur das Leben hatte sich verändert, die Menschen hatten sich verändert. Und sie hatte diesen Wandel nicht wahrgenommen. Es war keine Zeit gewesen zum Denken, nur Zeit für die Arbeit.

 

Den Wandel hat sie so lange nicht gemerkt, bis ihr erstes Kind mit Sätzen aus der Schule kam, deren Wirklichkeit sie erschreckte. Danach sah sie, wie die Gesichter der Menschen, die ihre Freunde gewesen waren, sich verändert hatten. Jetzt begann für sie die Nachkriegszeit. Jetzt, in den Wirtschaftswunderjahren. Jetzt, als ihre Kinder begannen, Dinge aus einer Welt zurückzubringen, die sie nicht kannte, in der sie aber lebte. Erst jetzt wurde die Zeit nach dem Krieg für sie zur Nachkriegszeit. Das Wirtschaftswunder interessierte sie nicht mehr. Sie arbeitete weiter.

 

Weil die eigenen Kinder ihr fremd wurden, arbeitete sie weiter. Die Nachkriegsmenschen begannen, Geld zu verdienen und in Urlaub zu fahren. Sie arbeitete weiter. Als sei sie die einzig Überlebende auf einer einsamen Insel. Sie wusste nicht, was es zu retten gab, doch sie arbeitete weiter. Bis die Sätze ihrer Kinder schließlich verständiger und nachdenklicher wurden. Bis ihre Kinder die Widersprüche benannten, die sie nur fühlte. Dann spürte sie den Riss in ihrer Vergangenheit noch einmal ganz deutlich. Doch die Sprache der Kinder, die sich über diesen Riss erstreckte, war eine Wohltat. Sie sah eine Brücke und arbeitete weiter.  

 

Die Kinder gingen ihren eigenen Weg. Sie fügten ihre Vergangenheiten wieder zusammen, indem sie Werte und Worte lebten, die ihre Mutter seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen und gehört hatte. Bis heute weiß sie nicht, wieso ihre Kinder ihre Wurzeln so tief in ihre Vergangenheit gründen konnten. Bis heute weiß sie nicht, wieso ihre Kinder den Riss überbrücken konnten. Aber sie ist dankbar und arbeitet weiter. Für die Kinder. Ohne gefragt worden zu sein. Und ab und zu hofft sie auf ein bisschen Anerkennung.


© Mechthild Eissing

Uneheliche Nächte


Wenn er schläft, schleicht sie sich in sein Reich. Atemlos setzt sie sich an seine Bettkante und beflügelt seine Träume. Ihr Atem ist heiß, ihr Sehnen wächst heran zu einem lauten Schluchzen. Er sieht sie nicht, er ist in seinen Träumen gefangen.


Wenn er nach getaner Arbeit schwer und müde in sein Bett fällt, dann ist seine Frau in weiter Ferne. Sie ist verreist oder sie hat ihn für kurze Zeit nur verlassen, sie pflegt die Kinder oder sie liebt ihn nicht, sie hat Migräne oder sie macht den Abwasch. Er hat eine Frau und er hat keine Frau. Sie kann sich nicht entscheiden und er kann sie nicht zwingen. Wenn er nach getaner Arbeit schwer ins Bett fällt, träumt er, wie sie seine Füße mit Seilen aneinander fesselt, träumt er, wie sie mit einem Hammer seine Hände an die Bettpfosten nagelt. Doch er kann nicht aufwachen, wenn er nach getaner Arbeit schläft.


Seine Frau, die seine Frau nicht ist, auch wenn sie ihn geheiratet hat, setzt sich zu seinen Füßen, wenn er schläft. Sie erinnert sich nackt und ohne Atem an die Zeit, in der er ein Knabe war. Sie hält seine Füße und sie hält seine Hände. Sie ist seine Frau und hat sich ihm entzogen. Ihr Sehnen wird er nicht sehen und nicht erleben, sie sorgt für seinen tiefen Schlaf.


Wenn er nach getaner Arbeit in den tiefen Schlaf fällt, den sie ihm bereitet hat, streicht sie mit ihren zarten Händen eine Salbe auf seinen Körper, die die Spuren der Arbeit und der Anstrengung, die Spuren der Kraft und der Männlichkeit, die Schweißtropfen und die Körperhaare von seinem Körper nimmt. Zart fühlt sich seine Haut an, sanft streichen ihre Hände den Körper des Knaben, der er einst war.

Sie ist seine Frau von Kindheit an. Ihre Liebe ist so jung und so zart, so unschuldig und so verwegen, so sanft und so unbeholfen, so unbescholten und so unbedarft wie die Liebe zwischen Vater und Tochter, zwischen Mutter und Sohn es nicht waren und nicht sein konnten. In ihrer Liebe zu ihrem Mann bewahrt sie, was der Vater ihr genommen hat.


Wenn er nachts wie gefesselt schläft, fehlen ihm die Brüste und der Schoß einer Frau. Sein Sehnen wird zu einem lauten Schluchzen. Seine Frau ist nicht seine Frau. Seine Frau ist ihm anvertraut wie eine Tochter. Seine Frau huldigt ihrer Unschuld und opfert ihn in jeder Nacht auf ihrem Altar. Sie weiht ihn den Göttern der Zärtlichkeit und über ihm weht der Duft von Rosen.

Nachts, wenn sie nackt um seinem Bette tanzt, verwandelt sie das Schlafzimmer in einen Altar der Liebe. Düfte und Lichter, Blumen und Kerzen erhellen ein Ritual, das zärtlicher nicht sein könnte.


Niemals wird er sie anfassen dürfen, sie ist wie seine Tochter und er darf sie nur begehren. Sie ist sein Mädchen und die Unschuld, mit der einst ihre Liebe begann, ist die Grundlage des Glücks ihrer Ehe.


Wenn er morgens erwacht nach den Tagen schwerer Arbeit, sind ihm die Zeichen der Anstrengung genommen. Ist ihm der Ausdruck der Männlichkeit genommen. Wenn er morgens nach den Tagen schwerer Arbeit erwacht, erwacht er als Knabe. Und erst des Tages Werk macht aus ihm wieder einen Mann, der am Ende seines Werkes fast traumlos und einsam die Nacht verbringt.


© Mechthild Eissing

Die Kofferträgerin

 

Es regnet. Der Weg der Gesellschaft vom Parkplatz zum Haus ist nur kurz. Doch es regnet. Zwei Frauen aus der Gruppe, die nun den Weg vom Parkplatz zum Haus durch den Regen nehmen muss, tragen weiße Hosen. Ihre Gesichter spiegeln das blanke Entsetzen. Ihre Jacken stecken in den Koffern. Nein, sie möchten nicht nass werden. Nicht nass und auch nicht schmutzig.

 

Ihr hilfesuchender Blick wendet sich an die Männer der Gesellschaft. Dieser Blick ist Routine. Man merkt es an der Reaktion der Männer. Beflissen suchen sie in Kofferräumen nach Schirmen, die von klugen Frauen beim Packen der Autos an die rechte Stelle gelegt wurden. Sie kennen ihren Teil der Aufgabe. Schwungvoll werden die Koffer herausgewuchtet. Schwungvoll werden die Regenschirme gespannt.

 

Die Männer schälen sich. Ihre Rauheit, ihre Grobheit, ihre Stärke legen sie ab, um sich den Frauen nähern zu können. Mit Regenschirm werden sie galant. Sie schmeicheln, sie trösten, sie schützen, sie geben Halt, indem sie die Frauen der Schöpfung sanft an den Arm fassen. Auch wenn man sie in diese Rolle immer erst hineinzwingen muss – sie fühlen sich darin durchaus wohl. Voller Stolz und voller Würde geleiten sie die Damen der Gesellschaft zur Tür des Hauses. Zwei der Damen der Gesellschaft.

 

Die dritte Frau, nicht Dame und auch nicht dämlich, bleibt allein mit den Koffern zurück. Im Regen und ohne Jacke. Ohne Schirm und ohne Mann. Denn der Zahl der Teilnehmer dieser Gesellschaft liegt keine Quote, keine Parität, keine Gerechtigkeit zugrunde. Allenfalls die Bindungslosigkeit einer Gruppe, die ein Jahr miteinander verbrachte.

 

Die dritte Frau, nicht Dame und auch nicht dämlich, begreift die Rolle, die ihr bleibt. Und sie nutzt die Chance, die ihr bleibt. Schwungvoll wuchtet sie die schweren Koffer der beiden Paare, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, und trägt sie den jungen Männern, die ihre Damen vor dem Regen schützen, hinterher. Sie selbst trägt als Regenschutz nur ihr eigenes Gepäck auf dem Rücken.  

 

Die Gruppe trifft sich an der Haustür wieder. Unter dem Vordach stellt die Kofferträgerin die beiden großen Koffer ab. Sie lächelt. Ganz ohne Vorwurf. Ihr Haar ist nass. Es stört sie nicht, dass Wassertropfen durch ihren Ausschnitt rinnen. Sie lächelt.

 

Die Herren – nun schutzlos und ohne Schale, galant und mit weichem Herzen – begreifen schlagartig ihre Grobheit und vor allem ihre Fahrlässigkeit. Das „Hätten wir nicht sollen müssen“ steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Frau, die weder Dame noch dämlich ist, lächelt unmerklich in sich hinein. Die Männer nehmen ihre Schuld auf sich und ducken die Köpfe. Die Kofferträgerin nickt ihnen nicht einmal zu zum Dank. Sie lässt sich ihren Zimmerschlüssel geben, nimmt ihren Rucksack von der Schulter und zieht sich in ihr Zimmer zurück.


© Mechthild Eissing 

Ein Rosenkranz der Liebe


Es ist nicht viel Platz in ihrer Garage. Und sie hat nur einen einzigen Schlüssel für das Tor. Aber das ist gut so. Die Garage ist ihr Ort. Auch wenn nicht viel Platz darinnen ist. Sie stellt das Auto vors Garagentor. So dicht, dass sie das Schwingtor nicht mehr ganz öffnen kann. So dicht, dass ihr niemand folgen kann. So dicht, dass sie mit ihren 52 Kilogramm auf 1,63 Meter Länge so gerade eben durch das Dreieck kriechen kann, das sich bildet, wenn sie das Schwingtor ihrer Garage bis zur Stoßstange ihres Autos öffnet. In der Garage stehen die Möbel, die ihr Mann mit in die Ehe gebracht hatte.

 

Sie kriecht durch das Dreieck zwischen Schwingtor und Garagenmauer. Das Auto in der Einfahrt gibt ihr Sicherheit. Es blinzelt ihr wohlwollend zu, wenn die Abendsonne sich in seinem Scheinwerfer spiegelt. Sie hat elektrisches Licht in der Garage. Damals, vor 23 Jahren, als ihr Mann die Garage geplant und gebaut hatte, hatte sie ihn ausgelacht: Licht in der Garage! Nur um ein Auto zu parken. Aber Gerd-Ulrich hatte gesagt, man könne ja nie wissen.

 

Heute weiß Gerd-Ulrich nichts mehr. Nicht einmal mehr, dass sie ihn immer Geduldrich genannt hat. Sie hat ihn begraben. Vor 11 Jahren schon. „Gerd-Ulrich ist viel zu früh von uns gegangen.“ So hatten die Schwiegereltern es in die Tageszeitung gesetzt. Dabei war er nicht von ihnen weggegangen. Geduldrich war geholt worden. Nachts. Sie hatte im Schlaf die schwarzen Gestalten an seinem Bett gesehen.

 

Nur mit einem Gebetbuch in der Hand betritt sie nach Feierabend die Garage. Das Auto wacht vor der Tür. Der Lichtschalter scheint nur auf die Berührung ihrer Hand gewartet zu haben. Aufgeregt flackert das Neonlicht. Es ist immer noch die Röhre von vor 23 Jahren. Annegret weiß, dass die Röhre bald das Zeitliche segnen wird. Geduldig wartet sie, bis sich das Flackern in eine gleichmäßig grelle Helligkeit verwandelt. Dann zieht sie das Garagentor von innen zu.

 

Jetzt ist es beruhigend, dass es nur einen Schlüssel zu dieser Garage ohne Fenster gibt. Niemand kann ihr folgen. Niemand kann sie einschließen. Niemand kann sie sehen. Dort, wo niemand sie sehen kann, hat sie eine Kniebank aufgestellt. So eine Kniebank wie in der Kirche. Niemand kann sie sehen. Niemand sieht das rote Polster, das ihre Knie schont. Niemand sieht, wie sie das Gebetbuch in die Ablage legt, die dafür vorgesehen ist.

 

Nein, sie wird nicht beten. Sie glaubt nicht. Nicht an Gott und nicht an die schwarzen Gestalten, die Gerd-Ulrich geholt haben. Sie hat das Gebetbuch noch nie geöffnet. Sie hat es gekauft für die Kirchenbank, nicht fürs Gebet. Sie wird nicht beten, aber sie denkt. Sie zündet eine Kerze an, sie kniet sich auf die gepolsterte Bank und sie denkt.

 

Er war geduldig.

Er hat sie geliebt.

Er hat sie umarmt.

 

Vor elf Jahren. Seit neun Jahren kniet sie in der Garage ohne zu beten. Seit elf Jahren geht sie nicht zur Kirche. Vielleicht ist sie ja auch vorher nicht zur Kirche gegangen. Sie weiß es nicht mehr. Abgenommen hat sie und trotz ihres Alters – Annegret geht auf die 50 zu – schauen die Männer ihr hinterher. Es ist, als ob die schwarzen Gestalten, die ihr ihren Mann genommen haben, ihren Hohn und Spott mit ihr trieben. Während sie jedem Abend dem Tod huldigt ohne zu beten, nimmt eine fremde Macht sich ihrer an und gestaltet sie zu einem ätherischen Wesen aus luftiger Schönheit. Nur ein Hauch ist sie, nur ein Hauch wird sie.

 

Annegret blüht auf, von Feierabend zu Feierabend. Seit elf Jahren wird sie mit jedem Abend, an dem sie in der Garage kniet und nicht betet, gleichsam jünger. Als ob sich ihr Leid nicht in ihr Gesicht fügen wollte. Die Nachbarn reden. Annegret weiß das. Die Nachbarn reden, dass sie ihren Liebhaber in der Garage ohne Fenster und Licht gefangen hält. Sie fesselt ihn ans Lager und füttert ihn mit Delikatessen, die sie nach Feierabend durch das schmale Dreieck zwischen Schwingtor und Garagenwand in die Dunkelheit schmuggelt. Die Nachbarn haben das genau gesehen. Und sie haben auch gehört, wie sie ihren Liebhaber lieb hat. Solche Geräusche kennt man ja. Nicht nur aus dem Fernsehen.

 

Die Nachbarn haben auch gesehen, wie jung und schön Annegret nach ihren Garagensitzungen in die Dunkelheit schleicht. Wenn das Gerd-Ulrich wüsste. Sie mochten ihn sehr. Er war ein treuer Mann gewesen. Viel zu früh war er gestorben. Annegret hatte ihnen gesagt, es war ein Herzinfarkt.

 

Zwei Jahre lang hatten sie die Geschichte mit dem Herzinfarkt geglaubt. Und dann hatte einer von ihnen gesehen, wie sie die Kniebank in die Garage geschleppt hat. Viel zu sperrig war das Ding gewesen für die zierliche Frau. Und überhaupt: Woher hatte sie diese Bank? Wer verkauft denn so etwas? Sie hatten versucht einen Blick zu erhaschen. Doch sie hatten nur ihre Stimme gehört. Annegret hatte nach dem Kauf der Kniebank angefangen, jeden Abend in der Garage mit einem Mann zu reden.

 

Deine Geduld – sie fehlt mir.

Deine Umarmung – sie fehlt mir.

Deine Liebe – sie fehlt mir.

 

Sie singt das Klagelied ihrer Liebe und flicht ihm einen Kranz aus Rosen. Ihre Hände sind zerstochen von den Dornen. Das Blut rinnt an der Kniebank herab. Sie spürt den Schmerz nicht, sie sieht ihre Hände nicht, sie zeigt ihre Hände nicht. Sie zeigt den Leuten nur ihr Gesicht, das immer jünger wird.

 

Gerd-Ulrich, du fehlst mir.

 

Wenn sie ihr Klagelied zu Ende gesungen haben wird, werden die schwarzen Gestalten auf sie zukommen. Sie werden sie überwältigen. Sie wird das Bewusstsein verlieren. Mitten in der Nacht wird sie unter dem gleißenden Licht der jetzt wieder flackernden Neonröhre erwachen. Sie wird das Garagentor öffnen und sich zitternd durch das Dreieck schleichen, das sich zwischen Schwingtor und Stoßstange bildet. Um die Ecke werden die beiden Nachbarn sich versteckt in einem Gebüsch versteckt halten. An ihrem Zittern und an dem Geruch des Blutes auf ihren Kleidern werden sie erkennen, was sie dem Mann, den sie in der Garage gefesselt hält, angetan hat.

 

Sie wird die Männer nicht beachten. Dutzende Male haben diese Männer die Polizei gerufen. Dutzende Male hatten Polizisten sie gebeten, aus der Garage herauszukommen. Dutzende Male hatte sie das Auto drei Schritte zurückgesetzt und den Polizisten Einlass gewähren müssen in ihr Heiligtum. Dutzende Male hatten die Polizisten nur eine Kniebank gefunden, um die ein Kranz von Rosen gewickelt war.

 

Einmal hatte ein Polizist gestöhnt. „Oh Gott“, hatte er gesagt und sich dann auf die Zunge gebissen. Gott ist tot, hatte Annegret am nächsten Tag an die Wand geschrieben mit Sprüh-Farbe, wie sie die Graffiti-Sprayer benutzen.

 

Sie wird an den Nachbarn vorbeigehen, die von der Polizei gewarnt wurden. Noch ein Fehlalarm, und man würde die Nachbarn wegen übler Nachrede in Gewahrsam nehmen. Annegret wird den Geruch von Bier und Schnaps wahrnehmen, wenn sie so tut, als seien keine Männer in dem Gebüsch.

 

Geduldrich ist tot. 11 Jahre schon. Annegret ist 48 Jahre alt, 1,63 Meter groß und sie wiegt nur noch 52 Kilo. Annegret ist hübsch geworden. Ihre Schönheit ist eine Schande. Ihre Hände zeugen davon. Und sie zeugen von dem Rosenkranz, den sie jede Nacht aufs Neue ihrem Liebsten flicht. Die Blüten gehören ihm. Die Dornen gehören ihr. Ihre Schönheit gehört ihm, auch wenn sie eine Schande ist. Ihr Schmerz gehört ihr.

 

Morgen, mein Liebster, werde ich dir folgen.


© Mechthild Eissing

Der Busfahrer

 

Die beiden Mädchen sind in die Stadt gekommen, in der sie nicht zuhause sind. Zuhause sind sie, man merkt das sofort, auf dem Dorf. Sie strahlen die Freude und Unternehmungslust zweier junger Menschen aus, die sich auf einen Ausflug begeben haben. Gleich beim Busfahrer informieren sie sich über die Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs. Und sie haben den Fahrer schon jetzt mit ihrer Freude angesteckt.

 

Er informiert sie sehr freundlich, dass sie dieselbe Strecke zurück besser mit der Straßenbahn fahren. Seine Information ist so sachlich wie herzlich. Und dann bricht es mit Verve aus ihm heraus: „So eine Fahrt mit der Straßenbahn ist allerdings nicht vergleichbar mit einer echten Busfahrt.“ Überzeugung und Übertreibung sind eins. Der Ernst, mit dem der Busfahrer diesen Satz ausspricht, lässt alle anderen Fahrgäste aufhorchen. Es wird stiller im Bus. Die beiden jungen Mädchen bleiben geduldig, freundlich und neugierig vorn beim Fahrer stehen.

 

Es folgt ein längerer, kölscher Monolog über die Vorteile des Busfahrens an und für sich. Dem Fahrer ist längst klar geworden, dass er seinen Fahrersitz gegen ein Rednerpult getauscht hatte. Doch er tut, als ob er das nicht merkt. Nur für die beiden Mädchen spricht er, nur die beiden Mädchen strahlt er an. Nein, so eine Straßenbahn fährt doch viel zu ruhig und gleichmäßig daher. Allein die Kurvenlage! Nicht zu vergleichen dagegen die Kurve, wie sie ein Bus nehmen kann. Der Busfahrer unterbricht an dieser Stelle seine Rede, um sich zu konzentrieren. Die anderen Fahrgäste wissen warum. Die nächste Kurve wird etwa einen 90-Grad-Winkel haben, und es gibt Busfahrer, die legen es nahezu darauf an, dass sich die stehenden Fahrgäste in dieser Kurve brüsk in die Arme fallen.

 

Die Stille im Bus wird hörbar. Die Spannung könnte knistern– doch der Verkehrslärm von draußen ist natürlich zu hoch, um das Knistern auch zu hören. Niemand nimmt die Außenwelt war. Unter den Fußsohlen fühlen die Passagiere, wie der Fahrer den Gang herunternimmt, mit den Augen sehen sie, wie er sich sanft in die Kurve hineinschiebt, mit den Ohren hören sie, wie der Motor seine Fahrt drosselt, mit dem Bauch fühlen sie, wie der Fahrer fast sanft um die Kurve fährt. Die beiden Mädchen können sogar sehen, wie seine Hände fast zärtlich und immer einander übergreifend während der Kurve das große Lenkrad fassen und gleichmäßig in Bewegung halten. Ja, es ist eine Vorführung. Eine Vorführung über die Vorteile des Busfahrens. Fast für sie ganz alleine. Für zwei junge Mädchen aus dem Vorort, die mutmaßlich häufiger mit dem Auto als mit Bus oder Bahn unterwegs sind.

 

Für keinen der Fahrgäste, die nach dieser Vorführung aussteigen, ist der verbleibende Tag so wie vorher. Jeder verlässt den Bus mit einem Lächeln auf den Lippen. Die meisten von ihnen wissen nun, dass Busfahren – ernsthaft betrieben – ein ebenso wundervoller Traum sein kann wie das Karussellfahren für Kinder. Es gibt aber auch Menschen, die haben während dieser Fahrt noch mehr begriffen. Sie haben gesehen, wie der Busfahrer mit seinem harmlosen Flirt die Herzen der Mädchen geöffnet hat. Sie haben gesehen, wie man Menschen aus ihrem Alltagstrott – mit schlechter Laune oder unausgeschlafen, verträumt oder geistesabwesend, in Gedanken verloren oder muffelig – herausreißen kann. Sie haben gesehen, was man den Menschen zeigen muss: Das Leben ist schön. Auch hier und jetzt. Man muss nur hingucken.

 

Die beiden Mädchen bleiben bis zur Endstation im Bus. Dankbar hören sie dem Busfahrer zu, der ihnen schließlich sogar noch den Rhythmus der An- und Abfahrtzeiten aufsagt. Wieder mit dem Hinweis, dass es für sie wohl besser sei, die Straßenbahn zu nutzen. Aber sie wüssten ja, so eine Busfahrt …

 

Endstation. Es mögen noch etwa zehn Passagiere im Bus sein. Wehmut und Abschiedsstimmung macht sich breit, niemand nutzt die wenigen Sekunden, die sich für einen Applaus eignen würden. Der Zaubervorhang der Vorführung ist unmerklich gerissen. Jeder kramt nach seiner Tasche, jeder hat zu tun und zu suchen, und scheinbar hat niemand dem Vortrag des Busfahrers zugehört. Die Mädchen hingegen verabschieden sich herzlich und das Lächeln des Busfahrers trägt sie zur Tür hinaus.

 

Die acht anderen Fahrgäste achten bei ihren künftigen Busfahrten jedoch ganz gewiss darauf, welcher Busfahrer diese wunderbare Kurve in welcher Gefühlslage zu meistern versteht.


© Mechthild Eissing

Der Neffe


Sie ist eine hagere Person, schon sehr betagt. Das Essen schmeckt ihr meistens nicht mehr, aber das macht ihr nichts aus – sie hat gar keinen Hunger. Und was braucht sie denn noch? Ihre Tage schleichen dahin, wie eine Katze auf Samtpfoten. Oft weiß sie nicht einmal, in welcher Tageszeit sie lebt. Sie lebt sowieso eher aus der Erinnerung.

 

Ihr Leben ist fast schon vorbei, sie weiß das. Sie wartet in ihrer Drei-Zimmer-Wohnung nur noch auf den Tod. Geduldig wartet sie, denn sie weiß, dass sie mit ihm nicht verhandeln kann. Sie hat weder Eile, noch will sie bleiben. Sie wartet nur, wie auf einen Zug, dessen Abfahrtszeit ihr nicht bekannt ist. Ihr Koffer ist gepackt.

 

Ihr Mann hat sie längst verlassen. Er liegt auf dem Südfriedhof. Und es ist auch schon Jahre her, dass sie sich selbst um sein Grab kümmern konnte. Nun sitzt sie an den langen Tagen ohne Tageszeiten allein in ihrem kleinen Sessel an dem runden Tisch. Sein Sessel bleibt leer. Aber sie spricht trotzdem mit ihm. In ihrer Erinnerung ist es ja gar nicht so lange her, dass er ihr noch aus der Zeitung vorlas. Und ihre Erinnerung ist sehr lebendig, manchmal ersetzt sie den Morgen, den Mittag und den Abend. Manchmal weiß die alte Dame nicht, in welchem Jahr sie lebt. Irgendwo zwischen 1938 und 1988 scheint ihr die Zeit stehen geblieben zu sein.

 

Stotternd erzählt sie der Helferin, was ihr Mann ihr damals nicht aus der Zeitung vorgelesen hat. Ihr Mann war doch bei der Bahn in Münster. „Else“, sagte er eines Tages, als er den Anblick der Züge vollgestopft mit Menschen nicht mehr ertragen konnte, als er die Ahnung des Massentodes nicht mehr von der Stirn wischen konnte wie ein paar lästige Schweißtropfen, „Else“, sagte er eines Tages, sie berichtet es der Helferin und kommt ins Stottern.

 

„Else, es ist nicht richtig, was die mit den Juden machen.“

 

Hastig bittet sie die Helferin um eine neue Tasse Kaffee. Sie schaut sich ängstlich, schnell und verstohlen im Raum um. Sind sie beide auch wirklich allein in der Wohnung? Hört jemand zu? Sie ist sich nicht mehr sicher, in welchem Jahr sie lebt. Sie weiß nur noch, dass sie auf den Tod hin lebt. Deswegen musste sie diesen Satz noch sagen. Aber ist jetzt das richtige Jahr, um diesen Satz auszusprechen? Oder hören die Spitzel immer noch mit? Ihr Mann hatte doch gar nichts gewusst. Aus ihren Gesichtern hatte er lesen können, was er nicht zu glauben vermochte: die Gefasstheit der Alten, die Fassungslosigkeit der Jungen, die Angst der Frauen – und keiner dieser Menschen wird jemals zurückkehren, das konnte er sehen.

 

Die Helferin ist ein liebes Mädchen und hat ihr eine neue Tasse Kaffee eingeschenkt. Mit Sahne, karamellbraun. Den Zucker rührt die alte Frau am liebsten selbst ein. Die Helferin weiß das und hat ihr die Zuckerstückchen auf die Untertasse gelegt. Ja, eine gute, heiße Tasse Kaffee mit weißer Sahne und zwei Stückchen Zucker – dieser Genuss ist ihr geblieben. Es ist, als ob der Kaffee sie zu einer Pause verpflichtet. Zu einem Gespräch mit ihrem Mann an dem kleinen runden Tisch. Vielleicht liest er ihr ja aus der Zeitung vor.

 

Aber nein, vor ihr sitzt ja die neue Helferin. Kennt sie sie schon lange? Sie weiß es nicht. Vermutlich sind es drei liebe Mädchen, die sie abwechselnd betreuen. Aber sie weiß es nicht genau. „Danke“, sagt sie, „für den Kaffee.“ Und erinnert sich kaum noch, welchen Satz sie soeben ausgesprochen hat. Mit einer Geste der Unduldsamkeit wischt sie sich über ihre Stirn, so wie ihr Mann sich wohl den Schweiß von der Stirn gewischt haben mag, als ihm der schreckliche Gedanke kam, dass sie diese Menschen verbrennen würden. Oder im Gas ersticken. Wer hatte ihm das gesagt? Nein, geredet hatte damals keiner.

 

Sie hatten die Stadt gesäubert. Else weiß es noch. Das war nicht richtig damals. Heute, kurz vor ihrem Tod, hat sie Angst. Nicht vor ihrem Tod, sie hat Angst vor all den Toten, die noch immer in den vollgestopften Zügen sitzen. Zumindest in der Nacht. Die Bahn fährt nicht weit von hier. Sie hört sie immer noch, die Züge, die viel zu voll mit Menschen sind.

 

Der Kaffee – er schmeckt ihr nicht mehr. Schon wieder hat er Sand reingeschüttet. Ganz sandig schmeckt der Kaffee, und ihre Stimme wird weinerlich. Verzweifelt ist sie, sie schüttelt den Kopf, es gibt kein Halten. Der schöne Kaffee. Unduldsam steht sie auf, die Pause ist beendet. Sie schlurft mit den Pantoffeln, die an den Zehen völlig durchlöchert sind, in die Küche. Nicht einmal neue Pantoffeln kauft er ihr. Und immer dieser Sand im Kaffee. Sie gießt ihn in die Spüle.

 

Dort setzt sie sich auf den Küchenstuhl. Die Anstrengung war zuviel, sie japst nach Luft. „Nein, immer dieser Sand, verstehen Sie?“, fragt sie die Helferin und schaut sie flehend an. Die Helferin versteht gar nichts. Der Neffe, er wohnt über ihr, er ist ihr Vormund. Die Helferin versteht gar nichts. Doch, ihr Neffe, der in Wirklichkeit ja nur ihr Halbneffe ist, der ihr keine neuen Pantoffeln kaufen kann, weil ihre Rente nicht reicht, weil er das Geld für sich behält, weil er sich rächen will, ihr Halbneffe wohnt in der Wohnung über ihr und kauft ihr keine Pantoffeln. Ihr Halbneffe ist Halbjude und schüttet ihr immer wieder von oben Sand in den Kaffee. Nicht einmal mehr ihre Tasse Kaffee gönnt er ihr.

 

Ein wimmerndes Häufchen alter Frau ohne Stolz und gebrochen, mit Tränen in den Augen, sitzt vor der Helferin. Der Neffe ist Halbjude. Das war nicht richtig damals, was die Familie mit ihm gemacht hat. Keiner wollte ihn großziehen, seine Mutter war doch schon weg. Sie haben sich doch gekümmert. Sie haben ihn aufs Land gebracht. Es war damals sehr schwer. In der Drei-Zimmer-Wohnung wäre kein Platz gewesen. Sie hatte doch selbst Kinder.

 

Die Helferin versteht, sie schenkt der alten Dame einen frischen Kaffee nach, mit Milch, sie legt den Zucker dazu. Dann lächelt sie verschwörerisch und schlägt vor, die alte Dame möge schlicht ihre Tasse mit der Untertasse zudecken. So kann kein Sand in die Tasse gelangen. Wie ein Blitz zuckt es durch die Augen der Alten, sie setzt sich aufrecht. Ja, so wird sie es machen. Sie wird sich nicht einschüchtern lassen. Sie wird auf ihren Kaffee achtgeben. Und morgen wird sie noch einmal nach den Pantoffeln fragen. Vergessen das Elend der Erinnerung. Die alte Frau setzt sich aufrecht. Sie wird den Tod aufrecht erwarten, nicht wimmernd.

 

Das nächste Mal, als die Helferin die alte Frau besucht, ist ihre Wohnung verschlossen. Von den Nachbarn erfährt sie den Namen des Krankenhauses. Nun ist es nicht mehr ihr Dienst. Und doch fährt sie hin. Der Schatten des Halbneffen begleitet sie. Er geistert durchs Krankenhaus. Sie stellt ihn, der gar nicht anwesend ist und der seine Tante ganz gewiss bis zu ihrem Tod auch nicht besuchen wird, den Krankenschwestern vor. Sie bleibt zu den Mahlzeiten, damit die alte Frau wenigstens etwas isst. Sie verscheucht den Schatten des Halbneffen, der gar nicht kommt. Doch der Schatten bleibt, er schleicht über die Gänge, sie trifft ihn auf dem Weg zur Toilette. Die alte Frau ist nur noch Angst. Sie kann nicht mehr aufrecht sitzen, sie will es auch nicht. Sie wartet nicht mehr auf den Tod, sie fleht ihn an. Er kommt in der Nacht. Sie ist allein. Der Neffe sitzt nicht an ihrem Bett.


© Mechthild Eissing 

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