Kopflos zu Ostern

Erschöpft wacht sie auf. Dabei ist die Nacht noch jung. Wer hat denn da, während sie schlief, aus ihrem Kopf geschöpft? Und wo ist er hin, der Schopf? Ach ja, richtig. Auf dem Kopf, der Schopf. Nur gut, dass sie nicht geschröpft aufwachte. Man stelle sich das einmal vor. Erschöpft also. Der Schopf auf dem Kopf – doch der Schöpfer?


Alles der Reihe nach: Erst wird nun der Schopf auf dem Kopf zum Zopf gebunden. Danach ist ihr Kopf wieder ganz frei. Ohne Vorsilbe und ohne Umlaut geht es ihm gleich besser. Das Sch und das Z sind quasi seine Geschwister. Mit ihnen versteht er sich gut. Aber diese Vorsilben! Sie fürchtet vor allem den Tag, an dem sie geköpft aufwachen wird. Kopflos. Erköpft?


Nein, das ist nicht komisch.


Gestern noch, da ging sie, die Nacht war noch jung, durch die Straßen der Stadt. Keinerlei Erschöpfung vorhanden, die ihr den Weg in den Schlaf gezeigt hätte. Vor einem Schaufenster blieb sie stehen. Geköpft war es. Das Kind. Eine Puppe nur. Eine Kinder-Schaufenster-Puppe ganz und gar kopflos. Die Schnittstelle blutleer. Eine kopflose Kindpuppe. Doch eine Puppe mit einem Lamm in den Händen. Das Lämmchen im Schoß, die Händchen in der Wolle des Lämmchens. Und wie zur Erklärung des schiefen Bildes hatte der Schaufensterersteller bunte Kapitälchen neben das Kindchen ohne Köpfchen gelegt. Das O glitzert gelb, das S glitzert rosa, das T glitzert mintgrün, das E glitzert wieder rot. Lila wiederum das R und grün das N.



OSTERN


Zu Ostern also werden die Kinder geköpft und ins Fenster zur Schau gestellt. Vielleicht rührt ihre Erschöpfung aus diesem Bild. Alles durcheinander. Der Schlachter gegenüber übrigens, der hängt die Schweine wieder ins Fenster. Seitenweise. Zum Trocknen. Und zum Anschauen. Aber das führt vom Wege ab. Der Weg führt uns direkt nach Ostern hin. Vor Ostern steht das Kreuz. An Ostern ersteht ER auf. Oder aufersteht ER. Der HERR. Jedes Jahr wieder. Nachts übrigens, wenn sie, die Nacht, noch jung ist. Die Kinder aber – sie wurden doch geköpft anlässlich SEINER Geburt. Das muss vor Weihnachten gewesen sein. Vielleicht war auch damals die Nacht jung. Aber vor allem waren es die Jungen, die geköpft wurden. Weil er, Herodes, IHN, den HERRN, der angekündigt war den Weisen, fürchtete.

Geköpftes Kind im Schaufenster. Kopflos mit Lämmchen. Zu Ostern.


Ringe, Range, Rose, Butter in die Dose, Schmalz in den Kasten, morgen wollen wir fasten. Übermorgen Lämmlein schlachten. Das soll sagen: Mäh!


Frohe Ostern oder Mäh?


Das Lämmlein jedenfalls gehört zu Ostern in den Topf. Vielleicht wird es dort ja getöpft. Nein, ganz sicher wird man sagen müssen: Das Lämmlein wird getopft. Ein Topf. Eintopf. Gut ist: Das Lämmlein wird keinesfalls gekröpft. Auch nicht, nachdem es geköpft wurde.


Die Taube – sie könnte allerdings das Lämmlein kröpfen. Doch die meisten Tauben sind Vegetarier. Nicht nur zu Ostern. Vielleicht ist der Friede deshalb mit ihr. Sie wird kein Lämmlein kröpfen. Und keiner Fliege ein Leid. Zufügen.


Aber der Friede – er ist ja auf und davon. Geflogen? Kein Osterfrieden. Wer nach ihm im Netz sucht, der findet den durchkreuzten Osterfrieden. Doch aus dieser Geschichte wollen wir gar nichts zu schöpfen beginnen. Nicht aus dem Netz, nicht aus dem Kreuzfeuer. Es ist nämlich gar nicht das Kreuz, das zu Ostern im Feuer verbrannt werden soll.



Es war Judas, der vor Zeiten, das sind mehr als fünf Jahrzehnte, in Gestalt der Vogelscheuche ans Kreuz gekleidet, aufs Holz gesetzt oben auf dem Osterfeuer verbrannt wurde. Doch das Kind, das den Judas noch nicht kannte, hat geschrien wie am Spieß. Es hat gesehen, was es nicht sehen sollte: Dort im Feuer, da wurde ein Mensch verbrannt. Das Kind scheute fortan das Feuer – und ins Dorf kam dieser Judas, dieser Verräter, diese Vogelscheuche, nie wieder zurück. Kein Menschenopfer mehr zu Ostern.


Ostern im Feuer des Kreuzes. Das Osterkreuz im Feuer. Die Osterfeier durchkreuzt. Die Taube, sie hat sich am Lamm verschluckt. Ihr Kropf ist fassungslos. Hätte sie doch wenigstens nur am -chen sich erschöpft. Aber nein, das ganze Lamm hat sie verschluckt. Ohne Umlaut. Kein Friede den Menschen auf Erden. Auch nicht den Menschen seiner Gnade. Vielleicht wird es Zeit, die Taube zu köpfen. Sie wird sonst noch ersticken. Noch bevor der Herr ans Kreuz geschlagen wird.


Palmsonntag – das ist ihre Zeit. Während der Herr auf dem Esel einherreitet, bringt die Taube den Palmzweig im Fluge. Das ist zeitversetzt um Jahrhunderte – denn der Palmzweig ist das Zeichen der Rettung aus der Sintflut. Doch flugs – oder im Fluge – ist die Taube mit Palmzweig den Zeichnern zum Zeichen des Palmsonntags geworden. Friede den Menschen auf Erden.


Die Sintflut wird enden. Und zwar genau am Palmsonntag, wenn der HERR auf dem Esel einherreitet. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Während das Kind im Schaufenster kopflos noch immer das Lämmlein streichelt.


OSTERN. Marsch. Marsch.


Sie war erschöpft aufgewacht, hatte den Schopf zum Zopf gebunden – und so befreit war sie über die Wörter und die Bilder hergefallen. Sie hatte geschöpft aus den Gedanken, die hinter den Wörtern und Buchstaben sich versteckt gehalten hatten. Denn so ist es: Die Sprache ist Versteck und Verrat. Manchmal ist sie auch einfach nur verstockt.


Wer der Sprache und ihren Bildern aber seinerseits mit dem Stock zu Leibe rücken will, der wird ihrer nicht Herr. Nein, die Wörter muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, wenn man sie verstehen will. Nicht kopflos, nicht kropflos. Und dann muss man Acht geben. Man könnte sich schon an den Wörtern verschlucken. Um wie viel mehr, dann an den Bildern, die zu den Worten gehören!


Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.


Ach Aschenputtel, du kanntest sie noch. Die Tauben, die dem Lamm kein Härchen gekrümmt hätten. Den Frieden aber, den hast du nicht gekannt. Wahrscheinlich wirst du ihn auch nicht kennengelernt haben, als du zur Königin gekrönt worden warst. Warum sonst hat uns diese Geschichte noch niemand erzählt?


Putt, putt, putt mein Hühnchen, putt putt putt mein Hahn.



© Mechthild Eissing, März 2024






Share by: